Donnerstag, 30. April 2015

28. Filmfestival Pilsen


Ein Stück Wien im Bürgervereinshaus

Eigentlich wollte ich mir nur das Měšťanská beseda in der Kopeckého sady anschauen und mir nebenbei einen guten Kaffee gönnen. Im „Bürgervereinshaus“, das 1901 nach einem Entwurf des tschechischen Architekten Alois Čenský fertiggestellt worden war, gibt es angeblich einen der besten Kaffees in der Stadt. Und den wollte ich mir, als fanatische Kaffeetrinkerin, nicht entgehen lassen. Doch auf eins war ich nicht vorbereitet: dass ich in die schönste Wiener Kaffehausatmosphäre eintauchen würde. Purer Jugendstil ist das Café, das während der Monarchie glorreiche Zeiten gesehen haben muss und sie heute, mit Lüstern, dunklen Holztäfelungen und galanten Wandgemälden, noch nacherleben lässt. Wien hat also auch bis hier nach Westböhmen gereicht. Zumindest in seiner genussfreudigen Lebensart. 

Wiener Kaffeehausatmosphäre ...
... im Bürgervereinshaus Měšťanská beseda
Im frühen 20. Jahrhundert traf sich hier die „gute“ Pilsner Gesellschaft, heute gehen Gäste in lässig-salopper Kleidung ein und aus, in ungezwungenem Auftreten auch vor Fotoapparaten und Fernsehkameras (und auch mein Hund Zampa wird gefilmt). Hier, im traditionsreichen Bürgervereinshaus, geht bis zum 2. Mai das 28. Filmfestival über die Bühne, bei dem tschechische und slowakische Regisseure ihre Dokumentar- und Spielfilme präsentieren. Tschechien und die Slowakei wieder einmal vereint. 

Der tschechische Fotograf Karel Slach (links) und der slowakische Regisseur Robert Kirchhoff
Mit zwei von ihnen komme ich ins Gespräch: mit dem tschechischen Fotografen Karel Slach und dem slowakischen Regisseur (hier aber Jurymitglied) Robert Kirchhoff. „Pilsen, Kulturhauptstadt Europas?“, frage ich ihn. „Oh ja“, meint Kirchhoff (und trotz seines deutschen Namens müssen wir auf Englisch miteinander reden), „hier ist ja Europa, und Pilsen wird für immer Auftrieb bekommen. Ich habe das auch in Košice gesehen (Anmerkung: die ostslowakische Stadt Košice/Kaschau war 2013 Europäische Kulturhauptstadt). Die Leute dort haben zu neuem Selbstbewusssein gefunden, zu einer neuen Identität. Und das wird sicher auch in Pilsen passieren“, fährt er fort. „Es wird sich das Klischee der ,Nur-Bier-Stadt‘ abschütteln und der Welt zeigen, dass es sehr viel mehr ist. Ich war seit einigen Jahren nicht hier und muss sagen, dass sich vieles geändert und die Stadt sich kulturell geöffnet hat.“

Die beiden müssen weiter, aber vorher schenkt mir Robert Kirchhoff noch eine Skizze, die er von Karel Slach auf einer Seite meines Notizblocks gemacht hat: von einem gutmütig lächelnden Tschechen.

Draußen auf den Pilsner Straßen und Plätzen herrscht inzwischen Lampenfieber. Die westböhmische Stadt bereitet sich begeistert auf den 70. Jahrestag der Befreiung durch amerikanische Truppen am 5. Mai 1945 vor.  Und vom 1. bis zum 6. Mai wird sie überquellen: von offiziellen Zeremonien, Militärparaden, Gedächtnisfeiern, Menschen. 

Begeisterte Plakate zum „Tag der Befreiung“
 
Und mein Hund Zampa wartet vor der Alten Synagoge.


Dienstag, 28. April 2015

Die drei goldenen Brunnen


Auf dem Wege zur modernen Stadt

Ich hätte sie gern in voller Aktion fotografiert. Aber den drei Brunnen auf dem Hauptplatz Náměstí Republiky in Pilsen fehlt bis heute noch ein (lebens-)wichtiges Element: das Wasser. Angst vor einem unerwarteten Kälteeinbruch, der – nach diesen letzten, fast sommerlichen Tagen – tatsächlich angesagt ist und das Wasser zum Gefrieren bringen könnte? Wer weiß. Ein Kamel mag ja als Wüstentier an Durststrecken gewohnt sein, eine (Wind-)Hündin aber hat auf die Dauer sicher Durst, von Engeln weiß ich das nicht. Denn die drei Brunnen, die beim geringsten Sonnenschein golden leuchten und glänzen, stellen – in sehr abstrakt-essenziellen Formen – eben ein Kamel, eine Windhündin und einen Engel dar.

Der „Engel“


Ehrlich gesagt war ich – und man mag mich da ruhig für eine Banausin halten – beim ersten Betreten des Náměstí Republiky mehr von diesen modernen Installationen angetan als von der altehrwürdigen gotischen Bartholomäuskirche. Sicher, die Pilsner Kathedrale zeichnet sich durch ihre attraktive Lage auf der Platzmitte aus, die „schöne Madonna“ im Inneren ist lieblich anzusehen, die Engelsköpfchen an der Außenseite (siehe einer meiner vorausgegangenen Blogs) versprechen Glück und Sorgenfreiheit, und der Glockenturm ist mit seinen 103 (nein: 102,26) Metern der Höchste im Lande (Böhmen). Aber die Schönste im Lande ist – die Pilsner mögen mir dieses Urteil verzeihen – die Kirche nicht. Was jedoch eben im nahen Rathaus getraute Paare nicht hindert, sich vor ihr zu den obligaten Hochzeitsfotos fotografieren zu lassen.

Drei Viertel Kilo Gold in allerfeinsten Folien sollen zur Verkleidung der drei bis heute noch durstigen Brunnen verwendet worden sein. Aber diese Kosten waren wohl nicht der Grund, warum die Stadtväter anfangs von dem Entwurf von Ondřej Císler, dem Preisträger des 2004 ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs, nicht sonderlich begeistert waren. Erst im Jahr 2010, als eine internationale Jury die Stadt Pilsen zur europäischen Kulturhauptstadt 2015 erwählt hatte, wurde das Projekt eilends aus der Schublade des Konservativismus herausgeholt und realisiert: um der Welt zu zeigen, dass Pilsen – dem Motto „Open up“ gemäß – eine aufgeschlossene, ja zukunftsorientierte Stadt ist.

Der in Prag tätige Architekt Ondřej Císler ließ sich zu seinen drei sehr stilisierten Kreationen übrigens vom Pilsner Stadtwappen inspirieren, wo eben diese drei Figuren auftreten: Die Windhündin wird als Symbol der Treue zu König und Kirche interpretiert (revolutionäres Wesen legten die Einheimischen selten an den Tag), das Kamel erinnert an eine Episode aus einer missglückten hussitischen Belagerung der Stadt im 15. Jahrhundert (wieder diese Treue zur dominanten Kirche), den Engel als Wappenschildträger schenkte Papst Gregor XIII. der Stadt Pilsen im 16. Jahrhundert. Das Tridentinische Konzil der Gegenreformation war gerade vorüber und besonders die Jesuiten propagierten, als Verbreiter der katholisch gefestigten Glaubensideen, einen neuen, glühenden Engelskult.

So, das war jetzt auch ein kleines bisschen Stadtgeschichte.

 
Um die Beine der „Windhündin“ tollen und verstecken sich die Kinder gern.


Montag, 27. April 2015

Bayern in Pilsen


Grenzüberschreitende Verbrüderung

Heute traute ich meinen Augen nicht. In wenigen Stunden hatte sich der Hauptplatz Náměstí Republiky, sonst Flaniermeile, Spielwiese (ohne Gras) und Sonnplatz der Einheimischen, in einen Biergarten (ohne Gras und Bäume) verwandelt. Mit hölzernen Biertischen und hölzernen Sitzbänken, wie sie einem bayerischen Biergarten gut anstehen. Und überall wurde Bayerisch gesprochen, in den verschiedensten ostbayerischen Varianten.

Die Belagerung des Pilsner Hauptplatzes durch Bayern jeden Alters und der Einzug des riesigen, fauchenden und feuerspeienden Drachenrobots Fanny aus Furth im Wald (eine Szene wie aus Jurassicpark) war der vergnügliche Abschluss der Bayerischen Kulturtage, die eine Woche lang Kultur in allen Formen in die westböhmische Stadt gebracht hatten. 
 
Der Drache Fanny aus Furth im Wald ist der größte vierbeinige Laufroboter der Welt. Hier das Untier vor den pastellfarbenen Hausfassaden am Pilsner Hauptplatz

Es hatte Begegnungen von tschechischen und bayerischen Berufsschulen gegeben, einen bayerisch-böhmischen Jugendkunstschultag, einen Auftritt der Regensburger Domspatzen in der Großen Synagoge mit ihrer beneidenswerten Akustik, Konzerte, Filmabende und Tanzperformances von bayerischen wie böhmischen Künstlern und Gruppen. Aus der überfüllten Kathedrale tönten Predigten auf Deutsch und auf Tschechisch, in denen viel von Brücken, Nachbarschaft und Europa die Rede war. Und der überraschten, neugierigen Teilnahme der Pilsner Einheimischen war anzumerken, dass dies keine leeren Worte waren. Hier in Pilsen wurden eine Woche lang Brücken geschlagen und Nachbarschaften gefestigt.

Der literarische Höhepunkt dieser bayerischen Woche war die Präsentation des zweisprachigen Buches unterwegs/cestou*: Je zehn ostbayerische und westböhmische Autoren setzen sich in kurzen Prosatexten mit dem Unterwegssein auseinander, mit dem „Wandern durch innere und äußere Landschaften“ – wie es im Vorwort heißt. Einige der Erzählungen spielen in Fantasielandschaften, andere haben „grenzüberschreitende“ Gegenden zwischen Bayern und Böhmen zum Schauplatz. 

 
Fünf AutorInnen des Prosa-Sammelbandes unterwegs/cestou. Von links nach rechts: Jarka Málková, Carola Kupfer, Tamara Kopřivová, Marita A. Panzer und Rolf Stemmle. Dazwischen, aufmerksam und in Pose, der Hund Zampa, mein treuer Reisegefährte

Die aus einer grenznahen westböhmischen Ortschaft stammende Schriftstellerin und Historikerin Marie Špačková schreibt in einem kurzen, 1990 angesiedelten Text von einem Zug, der von Böhmen nach Bayern fährt, von der unterschiedlichen Landschaft auf der einen und der anderen Seite der Grenze: „Näher zu den Bauernhöfen trauten sich die Menschen aus dem von der böhmischen Seite kommenden Zug nicht. Auf den Höfen der Anwesen zeigte sich auch niemand. Die einen wie die anderen wussten nicht, was sie voneinander denken sollten. Und auch wenn sie es gewusst hätten, sie wären nicht fähig gewesen es zu sagen. Die einen blieben für die anderen stumm.“ Glücklicherweise hat sich seit 1990, nach der Samtenen Revolution von 1989, einiges geändert. Heute spricht man, singt man, spielt man, tanzt man und trinkt man miteinander (gutes, schäumendes Bier, wie beide Seiten es lieben): Die Bayerischen Kulturtage sind ein beredtes Zeichen dieses Wieder-Miteinander-Könnens von Bayern und Böhmen, von Deutschen und Tschechen.

* Verband deutscher Schriftsteller, Regionalgruppe Ostbayern (Hg.), unterwegs. Geschichten aus Westböhmen und Ostbayern/cestou. Příběhy z východního Bavorska a západních Čech, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2015

Dienstag, 21. April 2015

Meine Heimat?

„Kde domov můj“ – „Wo ist meine Heimat?“

Heute will ich einmal eine längere Geschichte erzählen, die über Pilsen und seine unglaublich vielfältigen Veranstaltungen als Europäische Kulturhauptstadt 2015 hinausgeht. Doch sie beginnt in der westböhmischen Metropole.

Die Pilsner kennen ihn, zumindest dem Namen nach, (fast) alle. Nach Josef Kajetán Tyl ist das „alte“ Große Theater benannt, ein mächtiger Neorenaissancebau am Rand der Altstadt. 


Das Josef-Kajetán-Tyl-Denkmal vor dem Großen Theater in Pilsen, das den Namen des tschechischen Schauspielers und Dramatikers trägt

Wahrscheinlich wäre er weniger monumental und pompös ausgefallen, wenn der österreichische, im böhmischen Pirnitz/Brtnice geborene Architekt Josef Hoffmann den gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgeschriebenen Wettbewerb zum Neubau eines Stadttheaters gewonnen hätte. Aber dem deutschsprachigen, einem puristisch-schmucklosen Stil zugeneigten Hoffmann wurde der tschechischsprachige Antonín Balšánek vorgezogen, der eher auf imposante Repräsentationsbauten setzte. Nur eine Frage des Stils? Oder hatten bei der Wahl für Balšánek nicht vielleicht auch nationale Elemente mitgespielt? Die kleinen Nationen im riesigen Schmelztiegel der Donaumonarchie begannen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die eigene Kultur und Tradition zu besinnen. So auch die Tschechischböhmen.

Jedenfalls wurde das Große Stadttheater in Pilsen 1902, nach nur dreijähriger Bauzeit, eröffnet: mit Bedřich Smetanas Oper „Libuše“. Wie schon 21 Jahre zuvor das Prager Nationaltheater. Und auch das war wohl keine zufällige Entscheidung: Die Prinzessin Libuše gilt als legendäre Stammmutter der Přemysliden, die im Mittelalter 400 Jahre lang über Böhmen herrschten, bevor sie die Macht an die Luxemburger abtreten mussten.

Das Pilsner Große Stadttheater wurde dann, wie gesagt, nach Josef Kajetán Tyl benannt. Er war im Jahr 1865 in Pilsen gestorben, bei einem Gastspiel seiner Wandertheatergruppe, mit der er durch Böhmen zog. Erst 48 Jahre alt, arm und krank und Vater von sechs Kindern, zwei Töchtern und vier Söhnen (das siebte Kind kam einen Monat nach Tyls Tod auf die Welt). Eine ganz normale Geschichte also? Nein, ganz normal und alltäglich doch nicht. Die Story hat einen Background, den vielleicht nicht viele kennen, der aber heute für Schlagzeilen in Boulevardblättern sorgen würde: Nach wenigen Jahren kinderloser Ehe mit der Schauspielerin Magdalena Forchheimová verliebte Josef Kajetán Tyl sich in deren um 21 Jahre jüngere Schwester Anna und nahm sie mit zu sich. Der Dreier-Haushalt scheint funktioniert zu haben; denn weder ließ Magdalena sich scheiden noch hörten Josef Kajetán und Anna auf, Kinder in die Welt zu setzen: sieben in zwölf Jahren. 

Josef Kajetán Tyl auf einer Lithografie von Jan Vilímek
Sicher hätten die Tschechen mehr Anstoß an dieser für damalige Zeiten wohl skandalösen „Ehe zu dritt“ genommen, wenn Tyl inzwischen nicht eine Symbolfigur böhmischen Nationalbewusstseins geworden wäre. Im Jahr 1834 war in Prag Tyls „Fidlovačka“ (Das Schusterfest) aufgeführt worden, zu dem der tschechische Kapellmeister František Škroup die Musik geschrieben hatte. Das Theaterstück war nicht gerade ein Kassenschlager, doch eines der Lieder schmeichelte sich mit seiner getragenen, erhabenen Melodie bald in die Herzen der Tschechen ein: „Kde domov můj“ – „Wo ist meine Heimat?“. Das Heimatlied, in dem von brausendem Wasser und rauschenden Wäldern die Rede ist und Böhmen als irdisches Paradies verherrlicht wird, wurde gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Nationalhymne der eben gegründeten Tschechoslowakischen Republik erklärt und ist bis heute die tschechische Hymne (bewegend und unvergesslich ihr Vortrag beim feierlichen Staatsbegräbnis des tschechischen Ex-Präsidenten Václav Havel im Dezember 2011 im Prager Veitsdom).

Nicht nur die Pilsner, sondern alle Tschechen haben also von Josef Kajetán Tyl eine sehr viel seriösere Vorstellung als die eines unruhigen Wanderschauspielers und flatterhaften Herzensbrechers – der im Übrigen ein absolut gut aussehender Mann war, trotz der vielen Krankheiten, die seine Gesundheit schwächten und wohl auch zu seinem frühen Tod führten.
Die tschechische Nationalhymne, mit dem Text von Josef Kajetán Tyl und der Musik von
František Škroup
Die Nationalhymne, deren Textautor er ist, durfte bis 1938 auch auf Deutsch gesungen werden: „Wo ist mein Heim? / Mein Vaterland?“ sangen die Deutschböhmen, „Kde domov můj ? Kde domov můj ?“ war, mit zwei gleichlautenden Zeilen, die rhetorische Frage der Tschechen. Warum diese Divergenz? Ach, die ewige und immer wieder gestellte Frage nach dem Unterschied zwischen „Heimat“ und „Vaterland“.

„Was bedeutet für Sie ‚Heimat’?“ werde ich bei Lesungen aus meinem Buch „Böhmen hin und zurück“ oft gefragt. Manchmal helfe ich mir mit hochtönenden Zitaten über die Runden – „Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl“, „Heimat ist der Ort, wo sie einen hereinlassen müssen, wenn man wiederkommt“ –, andere Male, wenn der Hörerkreis kleiner und intimer ist, bekenne ich meine Vorstellung von „Heimat“: dass es für mich der Ort ist, wo ich alle Leute umarmen möchte, wo ich auch im Dunkeln keine Angst habe, wo ich mich einfach wohl fühle. Also domov můj im Tschechischen: mein Heim, meine Heimat, mein Zuhause. Und das hat nichts mit dem „Vaterland“ zu tun, das an Fahnenschwingen, rhetorische Reden und (leider auch manchmal) nationale Verbissenheit denken lässt und bei den Tschechen vlast heißt.

Das war jetzt eine Geschichte, die vielleicht weniger mit Pilsen, aber dafür mehr mit meinen böhmischen Wurzeln zu tun hat, mit meiner Suche nach einer Heimat. Aber doch auch mit Pilsen: Wenn ich über den Hauptplatz Náměstí Republiky gehe oder im Ateliér Jiřího Trnky das schöne, volle, weiche böhmische Gesicht des in Pilsen geborenen Animationskünstlers Jiří Trnka sehe, wenn ich durch die sanfte Hügelwelt um Pilsen fahre und aus Bedřich Smetanas sinfonischem Zyklus „Má vlast“ ein Motiv aus dem vierten Teil „Z českých luhů a hájů /Aus Böhmens Hain und Flur vor mich hinträllere, dann bin ich sicher: Das hier ist domov můj. Meine Heimat. Allerdings nicht mein Vaterland.

Donnerstag, 16. April 2015

Grabsteine und Anklopfsteine

Am jüdischen Friedhof in Spálené Poříčí


Ein jüdischer Friedhof
Mit drei Minderheiten will ich mich in Pilsen beschäftigen: mit Deutschen, Roma und Juden. Von Pilsendeutschen und Roma war in meinen vorausgegangenen Blogs schon kurz die Rede. So fehlten noch die Juden. Im späten 19. Jahrhundert waren sie – nach der vollständigen Gleichberechtigung um die Jahrhundertmitte – so wohlhabend und einflussreich geworden, dass sie in Pilsen einen Riesenbau aufführen konnten: die im Stadtbild mit ihrer Doppelturmfassade dominante und ihren maurischen Bauformen seltsam fremdländisch anmutende Großen Synagoge. Ich hatte sie gestern besuchen wollen, war aber mit meinem kleinen Hund kein gern gesehener Gast. Verständlicherweise.

Doch ich hatte vom jüdischen Friedhof in Spálené Poříčí gelesen, einem südöstlich von Pilsen gelegenen Städtchen. Der Tag war frühlingshaft schön und lud zu einer Tour aufs Pilsner Land ein.
Die kaiserlichen Truppen, die zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges von Feldmarschall Charles Bonaventure de Longueval, Comte de Bucquoy, befehligt wurden, bekamen 1620 nach dem Sieg am Weißen Berg bei Prag von Kaiser Ferdinand II. einträgliche Besitzungen übertragen und das Recht zum Brandschatzen zugestanden. Was sie ausgiebig nutzten. Auch im böhmischen Ort Poříčí, der daher zu Spálené Poříčí wurde, zum „niedergebrannten Poříčí“ – zu Brennporitschen, wie der Ort von den Deutschböhmen genannt wurde.

Zur Besiedlung der zerstörten Ortschaft kamen bald auch Juden heran. Hier, zum Wiederaufbau, waren sie, die sonst Ausgegrenzten, gern gesehen. Es kamen so viele, Handwerker und Händler, dass die jüdische Gemeinde sich bald eine Synagoge leisten konnte. Und vom Jahr 1670 an den Friedhof anlegen ließ.

Die Einheimischen von Spálené Poříčí sind heute stolz auf ihren jüdischen Friedhof. Auch der freundliche Václav. Im Gasthaus hatte er uns schon die Speisekarte in ein gebrochenes Deutsch  übersetzt, hatte dabei besonders die Preise hervorgehoben, die ihm – 80 Kronen (knapp 3 Euro) für ein Fleischgericht – wohl hoch erschienen. Das Bier durften wir ihm nicht bezahlen. Das sei „seine Sache“, gab er uns zu verstehen und begleitete uns dann zum židovský hřbitov am Ortsrand. Ein stimmungsvoller Ort mit seinen an die 200 Grabsteinen.

Im Jahr 1937 hatte hier die letzte jüdische Bestattung stattgefunden. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten sowieso nur noch wenige Juden im Städtchen, acht Männer, die die Konzentrationslager nicht überlebten, und zwei Frauen, die gleich nach Kriegsende auswanderten. 1946 wurde auch die Synagoge abgetragen. Juden waren keine mehr da. Doch der Friedhof wird bis heute besucht. Nicht nur von Touristen auf der Suche nach fotogenen Motiven mit moosbewachsenen, in jüdischen Lettern beschrifteten Grabsteinen. Auch Juden müssen in letzter Zeit hier gewesen sein. Wer sonst hätte auf die altersschiefen Grabsteine die kleinen Steinchen gelegt? Diese Dofek genannten „Anklopfsteine“, die von Juden bei Friedhofsbesuchen zurückgelassen werden. Ein Gruß an die Toten? Eine Erinnerung an die Vergangenheit, als das biblische Volk in der Wüste lebte (und starb) und seine Gräber durch aufgehäufte Steine vor Grabräubern und Aasfressern schützte? Oder einfach ein Grabschmuck: dauerhafte Steine statt verwelkender Blumen? Die Historiker mögen sich über Herkunft und Bedeutung dieser Steinchen den Kopf zerbrechen und nach rationalen Erklärungen suchen. Sie bleiben rätselhaft und von magischem Reiz.

Alte Grabsteine am jüdischen Friedhof in Spálené Poříčí

Montag, 13. April 2015

Endlich angekommen

 
Glückbringende Engelsköpfchen

Zur Sicherheit habe ich sie alle angegriffen, die 29 vergoldeten Köpfe der Schutzengelchen, die mich vom Gitter an der Grablegungsszene an der Ostseite der Pilsner Bartholomäuskirche anschauten: lieblich lächelnd die einen, ernst und gravitätisch wie romanische Ministatuen die anderen, skeptisch und nachdenklich die dritten, als wüssten sie meine geheimsten Gedanken zu lesen. Und ich war nicht die Einzige, die mit dem Engelchen-Anfassen etwas Glück zu ergattern suchte. Einer der kleinen Köpfe ist vom vielen Angreifen schon ohne Goldfarbe. So viele Bittsteller gibt es. Nicht nur in Pilsen.

Drei der 29 Engelsköpfchen an der Bartholomäuskirche


Ich bin also angekommen. Endlich. Glücklich, aber nicht ganz reibungslos. Ein paar Dinge sind noch zu regeln, bevor ich ernstlich an die Arbeit gehen kann. Zum Schreiben und Recherchieren bin ich noch nicht recht gekommen, zum Fotografieren schon. Daher hier als erste Eindrücke einige Fotos.

Der erste Rundgang, noch am Ankunftsabend, war natürlich zur Náměstí Republiky, dem breiten, weiten Ring im Herzen der Altstadt.


Die Bartholomäuskirche auf der Náměstí Republiky in Pilsen bei Nacht


Dann kamen Rund- und Quergänge, immer wieder um und über den Hauptplatz mit seinen faszinierenden Häuserfassaden aus mehreren Jahrhunderten, der Pestsäule und seinen drei hochmodernen goldenen Brunnen…

Bewegte Häuserfassaden am Ring

Die Pestsäule aus dem 17. Jahrhundert

Einer der hochmodernen drei goldenen Brunnen am Ring


... auch die 293 (oder sind es 298?) Stufen zur Aussichtsterrasse der Bartholomäus-Kathedrale hinauf ...

Blick vom 103 m hohen Glockenturm der Bartholomäuskirche auf das Rathaus (links)

... und über den Stadtplatz hinaus zur Großen Synagoge ...

Die Große Synagoge 

... zum alten Stadttheater ...

Das Stadttheater (hier der Eingangsportikus) trägt den Namen des in Pilsen gestorbenen tschechischen Dramatikers Josef Kajetán Tyl (1808–1865).
... und zum Neuen Theater

Das Nové divadlo wurde im Herbst 2014 eröffnet.


... und zu den Grünanlagen an der Pallova mit den bunten Fantasiekreaturen zur Freude von Kindern (und Erwachsenen).



Auch ein paar Begegnungen habe ich schon gemacht:

mit Helmut Winter, einem Pilsendeutschen, der mir gleich beim ersten Mittagessen in der traditionsreichen Gastwirtschaft U Salzmannů Bier (was sonst schon!) trinkend gegenübersaß und mir in nächster Zeit mehr über sich und die Deutschen in Pilsen und Umgebung erzählen wird,

Helmut Winter in der Gaststätte U Salzmannu

mit einem Roma-Straßenmusikanten, mit dem ich mich auf Romanes recht gut verständigen konnte.

Ein rumänischer Roma-Musiker in der Pilsner Altstadt

Wie unendlich viel wird hier in Pilsen, meiner Heimstätte für die kommenden fünf Monate, auf mich zukommen! Und ich fühle mich schon fast wie zu Hause. Bald werde ich mein Lieblingscafé finden, wie bei Jolanda und Artan im heimatlichen Pergine Valsugana. Zum espresso am Vormittag und zum turek am Nachmittag. Auch mit dem Autofahren in der Innenstadt mit den verwirrenden Einbahnstraßen komme ich gut zurecht. Da noch viel gebaut und verschönert wird (hoffentlich rechtzeitig zur Ankunft der Touristenströme, die Plzeň sich als Evropské hlavní město kultury 2015 erwartet), darf man hier und da ein Verbotsschild übersehen, ohne dass die PolizistInnen einem gleich nachpfeifen. Auch das gehört zu den Freundlichkeiten der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas.


Sonntag, 5. April 2015

Schade! Škoda!

 
Von Roma und anderen Anderen

Schade! Škoda! Nein, nein, ich meine nicht die Škoda-Werke, die seit ihrer Gründung 1859 in Pilsen die Welt mit Lokomotiven, Waffen und Kraftfahrzeugen beliefert haben. Nein, einfach schade. „Škoda“, wie die Tschechen sagen. „Škoda“, dass ich es nicht geschafft habe, vor Ostern nach Pilsen zu kommen. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa, das mich zur „Stadtschreiberin Pilsen 2015“ ernannt hat, hat meine Blogbeiträge ab Anfang April angekündigt. So schreibe ich sie auch pünktlich. Aber noch nicht aus Pilsen, das gleich nach Ostern für die nächsten fünf Monate mein Domizil sein wird, sondern vorerst aus Pergine Valsugana in Norditalien, meinem ständigen Wohnsitz. 

Škoda! Das internationale Dokumentarfilmfestival „Jeden svět/Eine Welt” ist, wenn ich in Pilsen/Plzeň ankomme, schon über die Bühne gegangen. Wirklich škoda, denn es hat sich in diesem Jahr auch mit Leben und Alltag von Minderheiten beschäftigt. Das hätte mich interessiert. Denn „Minderheiten gestern und heute“ stehen auch bei meinem Stadtschreiberin-Projekt auf dem Programm: Deutsche … Juden … Roma.

Ich will in den kommenden Wochen und Monaten noch in Pilsen/Plzeň und Umgebung lebende Deutsche treffen, will mit Juden sprechen, die nach dem Holocaust wieder in die Stadt zurückgekehrt sind, will Begegnungen mit Roma suchen. Sie gelten in Tschechien derzeit als die problematischste Minderheit. Denn „Andere“ machen neugierig, können aber auch Angst vor der Begegnung mit dem Unbekannten machen.

Der 2014 produzierte Film „Cesta ven“, in dem der tschechische Regisseur Petr Václav sich mit dem Leben eines jungen Roma-Paares auseinandersetzt, das ein normales Leben führt, führen möchte, aber überall auf Vorurteile und Ausgrenzung stößt, ist mehrfach preisgekrönt und von Kritikern belobigt worden. Intellektuelle und engagierte Journalisten greifen das Thema der Roma-Feindlichkeit immer wieder auf. Aber in der Einstellung der Tschechen (und nicht nur der Tschechen: Ich lebe in Italien, wo es kaum anders aussieht) den Roma gegenüber hat sich damit wenig geändert. Sie werden bejubelt und vergöttert, wenn sie als Musiker und Künstler auftreten. Aber im Alltag bleiben sie die „dreckigen Zigeuner“. Ich darf diesen offiziell in der deutschen Sprache verpönten, da mit Vorurteilen und Klischeevorstellungen belasteten Begriff „Zigeuner“ verwenden: Seit 30 Jahren ist mein Lebensgefährte ein Zigeuner. Und ein bekannter Künstler. Olimpio Cari, ein italienischer Sinto. Er ist auf mysteriöse Weise zum Malen gekommen, nach dem Besuch auf dem Grab des eben verstorbenen russischen Malers Marc Chagall im Frühjahr 1985.
Das hat natürlich nichts mit Pilsen/Plzeň zu tun. Mit mir aber schon. Und da ich auf dieser Seite des Deutschen Kulturforums östliches Europa jetzt fünf Monate lang meine Blogs schreiben werde, wollte ich vorweg auch etwas von mir und meinem Leben erzählen. Und ein paar Werke von Olimpio zeigen.


Das Feuer, Foto Carla Festi
Thespiskarren im Gebirge, Foto Matteo Lorenzi
Der Drache, Foto Carla Festi

Mosaikschloss, Foto Wolftraud de Concini