Samstag, 1. August 2015

Wanderung nach Plöß/Pleš


 Dillsuppe im Nicht-mehr-Dorf


So was Gutes hatte ich schon lange nicht mehr gegessen. Französische Austern? Italienischen Trüffelrisotto? Spanische Paella? Nein, ganz und gar nicht, keine internationale Spezialität. Es war eine einfache koprová polévka, eine böhmische Dillsuppe mit Pilzen und Kartoffeln. Und dazu ein Bier. Endlich einmal ein tschechisches Bier. Ich musste mich ja nicht gleich wieder ans Steuer setzen.
Schmackhaftes aus Böhmen: Dillsuppe und Bier

Wo ich diese köstliche Suppe gegessen habe? In der Hostinec na Pleši, dem „Wirtshaus bei Pleš“. Und wo ist das? Eigentlich nirgends. Denn das Dorf, bei dem das Gasthaus liegen müsste, gibt es nicht mehr. Es ist – wie man auf einer Tafel im Wald lesen kann – ein zaniklá obec, ein „untergegangenes Dorf“. Wie Jánska Huť/Johanneshütte, Stráská Huť/Strasshütten, Václav/Wenzelsdorf, Rabov/Rappauf und Mostek/Schwanenbrückl in der Nähe. Alle im Umkreis von wenigen Kilometern, wie man sie auf einer Tagestour leicht erwandern könnte. Aber alle sind heute verschwunden, im Jahr 1945 von ihren ehemaligen deutschsprachigen Bewohnern verlassen und dann nach 1950 vom kommunistischen Regime der Tschechoslowakei abgerissen und dem Erdboden gleich gemacht worden. Denn sie lagen in dem mit Zäunen und Wachttürmen gesicherten, militärisch kontrollierten Grenzstreifen, der auch eine Breite von mehreren Kilometern haben konnte und in dem niemand wohnen durfte. Ortschaften von der Landkarte gestrichen, heute mit Mühe und Not auf einer Turistická mapa auszumachen, einer Wanderkarte im Maßstab 1:50 000.


Ein Ortsschild anstelle eines 1000-Seelen-Dorfes

Warum ich mich für Untergegangenes, Nicht-mehr-Bestehendes interessiere? Ein Onkel von mir war in Plöß Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Geistlicher. Allerdings nur für wenige Monate, von Oktober 1921 bis Juli 1922. Doch für mich Grund genug, mich im Nicht-mehr-Dorf umzuschauen.

So bin ich also von der deutschen Seite hergewandert (auf der tschechischen Seite wäre der Weg sehr viel länger gewesen), von der Wenige-Häuser-Siedlung Friedrichshäng bei Schönsee, in einer guten halben Stunde auf  bequemem, ebenem Waldweg, durch lichte Wälder und an weiten Koppeln vorbei, auf denen Kühe genüsslich weideten (es muss also doch noch Menschen hier geben). Bis hier zum Wirtshaus „Na Pleši“ bin ich gegangen. Und zur Dillsuppe, wie ich sie als Kind oft gegessen hatte. Wahrscheinlich schmeckte sie mir deshalb so gut. Kindheitserinnerungen, Nicht-vergessen-Können von bemaltem Keramikgeschirr, kräftigem Küchenduft, einfachen Speisen.

Ich kam hier in Pleš in eine „Wüstung“. Ich kannte dieses Wort nicht, musste erst in der Internet-Enzyklopädie nachschlagen: „Wüstung ist die Bezeichnung für eine Siedlung ..., die in der Vergangenheit aufgegeben wurde, an die aber noch Urkunden, Flurnamen, Reste im Boden, Ruinen oder örtliche mündliche Überlieferungen erinnern.“

Als mein Onkel Adolf Rudy, damals 26 Jahre jung, hier provisorisch als „Administrator“ fungierte, war Plöß/Pleš ganz und gar keine Wüstung, keine Einöde, sondern eine beliebte Sommerfrische. Viele Prager kamen herauf in dieses betriebsame, überwiegend von Deutschen bewohnte Dorf, kehrten gern in einer der damals drei Gastwirtschaften ein. Die eleganteste war das „Gasthaus Flor“. Zur Erinnerung an diese wie das ganze Dorf verschwundene Gaststätte wurde ein eisernes Kreuz aufgestellt, vor dem, wie vor Grabkreuzen, Kerzen brennen,

Am Kreuz zur Erinnerung an das Gasthaus Flor

ein anderes Kreuz wurde zur Erinnerung an die Dorfkirche aufgestellt, in der mein Onkel Geistlicher war,

Neben dem Baumstamm rechts das Kreuz zur Erinnerung an die Dorfkirche von Plöß

und ein Baum hält heute das Gedächtnis an den ehemaligen Dorfbewohner „Hebammer“ wach, der in Wirklichkeit Thomas Drachsler hieß und im Haus Nr. 28 wohnte, an der Hauptstraße des einst lang gestreckten Dorfs, das bei Kriegsbeginn noch mehr als tausend Einwohner hatte, wohl das bevölkerungsreichste der hier in Westböhmen verschwundenen Dörfer.

Ein Baum als Memorial für ein von „Hebammer“ bewohntes Haus

Und das Pfarrhaus? Wo mochte das gestanden haben? Sicher nahe bei
der Kirche. Vielleicht hier?


Oder hier?



Von welchen Häusern mögen die Steine stammen, die neben dem heutigen Gasthaus „Hostinec na Pleši“ zu einer Art Erinnerungsmauer angehäuft worden sind?


Und diese?





Die Grundmauern der Friedhofskirche sind neu aufgeschichtet worden, mit einem soliden Steintisch für Messfeiern, der Friedhof daneben mit seinen vielen deutschen Grabaufschriften ist geordnet und gepflegt.

Die Grundmauern der Friedhofskirche Hl. Johannes der Täufer in Plöß/Pleš

Überall wachsen wunderschöne Blumen und Gräser, als wollten sie die Wüstung übermänteln und ihr ihre Tristesse nehmen (und wenn ich seinerzeit im Botanikunterricht besser aufgepasst hätte, wüsste ich jetzt auch ihre Namen):







Aber die Nostalgie bleibt. Trotz Bier und Dillsuppe.






0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen