Dienstag, 22. September 2015

Weltkultur im Böhmerwald


Sonntagsausflug nach Kašperské Hory

Ich hatte noch die lange Rückfahrt von Den Haag nach Pilsen in den Knochen und die wunderschönen Märchenhäuser im Diplomatenviertel der „Welthauptstadt der Gerichtsbarkeit“ vor Augen, als meine tschechische Freundin Lenka mich zu einem Ausflug einlud: zu einer kleinen Sonntagstour in den Böhmerwald hinunter. Da ich, eine ewig unruhige „Herumziehende“, solchen Einladungen nicht widerstehen kann, fuhren wir nach Kašperské Hory/Bergreichenstein. Und ich hatte nicht gedacht, dass es eine Fahrt in eine andere Welthauptstadt werden würde.

Eine Traumwohnung in Den Haag: Gibt es dort keine Stadtschreiberstelle?


Giebel des Rathauses in Kašperské Hory
 
Die gotische Kirche der hl. Margarethe in Kašperské Hory: Auch hier hat ein Onkel von mir in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kaplan gewirkt.

Wien? Prag? Nürnberg? Was sind sie schon im Vergleich zu Kašperské Hory? Hier, in dem 758 Meter hoch gelegenen 1500-Einwohner-Städtchen, kreuzen sich die Fäden der Geschichte. Vom Mittelalter an führte durch die Gebirgsstadt und ihre Umgebung der bedeutendste Handelsweg des europäischen Festlandes, von Südfrankreich in den arabischen Osten. Durch Böhmerwaldtäler, die heute als stille Erholungsgebiete propagiert werden, zogen unablässig endlose Karawanen aus Lasttieren, die mit den kostbarsten Schätzen der damaligen Zeit beladen waren: mit feinen Seidenstoffen, orientalischen Gewürzen und damals sündteurem Salz, die den Einheimischen das Flair der weiten Welt vorführten, aber auch mit Wolle und Leder, Hopfen und Honig aus den böhmischen Ländern. Und dazu der „Goldene Steig“, der seinen Namen zu Recht trug. Denn die Berge rund um Kašperské Hory waren voller Gold, sind es auch heute noch. Doch das Angebot internationaler Konzerne, die dieses Metall heute schürfen möchten, wurde von den Einheimischen strikt abgelehnt: Eine gesunde Umwelt ist ihnen lieber.

Vladimír Horpeniak, der historische Leiter des Böhmerwaldmuseums, erzählt mit wachsendem Enthusiasmus von seinem Heimatstädtchen, das vom Mittelalter an von Königen und Kaisern umworben war: eben eine damalige Weltstadt an einer internationalen Handelsroute. Und er führt uns durch die Ausstellung „Die gotische Kunst in der Gegend der Flüsse Otava und Úhlava“ mit reich vergoldeten Flügelaltären und einzigartig schönen Madonnenstatuen, die alle hier im südwestböhmischen Raum entstanden sind.

 
Lenka Němečková und Vladimír Horpeniak neben einer gotischen Madonnenstatue

 
Hier und nachfolgend mehrere gotische Madonnenstatuen in der Ausstellung über gotische Kunst im Böhmerwaldmuseum in Kašperské Hory








Gotische Fresken in der Nikolauskirche in Kašperské Hory
Bemalte Decke und Empore in der Nikolauskirche

Viele der zauberhaften Gläser aus dem Besitz des Museums stammen aus der Glashütte Lötz im benachbarten Dörfchen Klášterský Mlýn/Klostermühle. Auch hier wieder der Wind der großen, weiten Welt. Für die weltberühmte Kunstglasmanufaktur, die 1945 mit der Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung geschlossen wurde, entwarfen Wiener Architekten und Designer wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Otto Prutscher, Michael Powolny und andere Künstler der Wiener Werkstätte Glaskunstwerke, um die Museen und Sammler sich heute reißen.

Unglaublich, was an großer Kultur auch in diesen nur scheinbar abseitigen Gebirgsgegenden zu finden ist. Vielleicht hat Vladimír Horpeniak doch Recht, Kašperské Hory für den Nabel der Welt zu halten? 

Die Bergsynagoge in Hartmanice

Nur ein paar Kilometer weiter, und Lenka und ich legen einen neuen Halt ein. Die vorbildlich restaurierte Synagoge in Hartmanice/Hartmanitz präsentiert sich mit einer Ausstellung, in der viel von Juden, jüdischer Geschichte und Judenverfolgung erzählt wird. Vor allem aber vom tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenleben, das hier bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur möglich war, sondern zur jahrhundertelangen gegenseitigen Beeinflussung von Kulturen geführt hat. Hinterwäldlertum in versteckten Böhmerwaldtälern? Nein, das ist Verständnis über alle Grenzen hinweg. Vor allem über die in unseren Köpfen.

 
Božena Stejkalová

Božena Stejkalová, die Aufseherin im Museum der Bergsynagoge in Hartmanice/Hartmanitz, wünscht uns gute Reise, und Lenka und ich fahren einem prachtvollen böhmischen Sonnenuntergang entgegen.


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