Freitag, 4. Dezember 2015

Spartakiaden als Pflaster für die gebrochenen patriotischen Herzen der Sokol-Mitglieder

Nachdem die Stadtschreiberzeit von Wolftraud de Concini leider vorüber ist, bloggen auf ihrer Seite bis Ende des Jahres Schülerinnen des Geschichtslehrers Antonín Kolář über verschiedene Pilsener Themen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa.

»„Wenn uns die Mutter Heimat ruft, ihre treuen Kindlein, lädt der mächtige Arm des Sokols die bösen Schädlinge zum Kampf ein! So selig wird unsere Freude darüber sein, das eigene Leben zu opfern, dies soll des Sokols heilige Parole sein: für das Volk, das Recht, das Land! Nun, Brüder, lasst uns mit heldenhafter Kraft die Heimat und die Sprache schützen, dies soll für uns der einzige Stolz sein und dafür lasst uns dem Gefecht entgegeneilen. Und erst am Tage der Erlösung wird für uns der wunderschöne, goldene Traum emporsteigen, dann wird für uns klar wie die Sonne auf ewig die Freiheit brennen.«
(Auszug aus der Sokol-Hymne)


Sokol-Turnhalle nach der Eröffnungsfeier im Jahr 1896

Tereza Brožová, Masaryk-Gymnasium Pilsen

Am Sonntag, den 9. Februar 1896 wird die Turnhalle des Vereins Sokol (dt. „Falke“) im Pilsener Štrunc-Park/Štruncovy sady feierlich eröffnet. Etwa 23 Jahre später beehrt Präsident Tomáš Garrigue Masaryk, Unterstützer und Mitglied des Sokol, die Turnhalle mit seinem Besuch. Während des Ersten Weltkriegs werden die sportlichen Aktivitäten unterbrochen, am 3.8.1914 wird die Turnhalle dem Roten Kreuz für ein Lazarett angeboten und drei Jahre später verwandelt sie sich in ein Armeequartier. In der Zwischenkriegszeit erlebt der Tschechische Sokol-Verband, der von seiner Entstehung 1862 bis zur Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 ein wichtiger Träger der Nationalbewegung gewesen war, sein goldenes Zeitalter und wird eine Organisation mit mehreren Millionen Mitgliedern. Am Ende des Ersten Weltkriegs belief sich die Zahl der Pilsener Sokol-Turner auf etwa 1300.

»Im Jahr 1931 nahm mich meine Mama zum ersten Mal zum Sokol in Přeštice mit. Ich war damals sechs Jahre alt, also noch in der Grundschule«, beginnt Milada Chudlařská ihre Erzählung. Sie ist immer noch eine aktive Trainerin für moderne Gymnastik. Wie in ihrer Familie üblich, setzt auch sie bis zum Ende der Ersten Republik die Tradition des Mitgründers der Sokolo-Bewegung Miroslav Tyrš fort und lässt sich zusammen mit den anderen Sokolisten von dem Motto „In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist!“ leiten. Erst viele Jahre später wird ihr bewusst, dass der Grundstein der Liebe zu ihrer böhmischen Heimat gerade in den Sportstunden gelegt wurde. Die Kinder beenden jede Stunde mit einem der zahlreichen Sokol-Lieder.

Zeitgenössische Sokol-Postkarte von 1901 mit einem Porträt des Gründers Miroslav Tyrš

Die patriotische Idylle wird jedoch mit der Okkupation durch die Nationalsozialisten und der Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren beendet. Am 12. April 1941 verfügt der Staatssekretär beim Reichsprotektor, Karl Hermann Frank, die Einstellung der Aktivitäten des Sokols, dessen Mitglieder sich in verschiedenen Widerstandsgruppen engagierten. Etwa ein halbes Jahr später wird Reinhard Heydrich von Adolf Hitler zum stellvertretenden Reichsprotektor Böhmen und Mähren ernannt. Er ruft sofort das Standrecht zur Bestrafung des tschechischen Widerstands aus. Bei der »Aktion Sokol« werden die Sokol-Funktionäre verhaftet und gefoltert, über 3000 von ihnen sterben später in Konzentrationslagern. Einer von ihnen ist Emil Štrunc, nach dem in der Nachkriegszeit die Parkanlage benannt wurde, in der bis heute die Sokol-Turnhalle steht. Im Januar 1942 nimmt im Sokol-Gebäude im damaligen Pecháček-Park/Pecháčkovy sady der Hilfsdienst der jüdischen Gemeinde in Pilsen seine Tätigkeit auf und ab dem 9. Januar 1942 werden vor dem Gebäude die Transporte der jüdischen Bevölkerung zusammengestellt. Die Juden aus Pilsen und Umgebung werden von hier nach ihrer Registrierung zum nahegelegenen Bahnhof geführt, um nach Theresienstadt deportiert zu werden.


Das historische Interieur der Skol-Turnhalle im Štrunc-Park

Nach 1945 ersteht die Tschechoslowakei wieder. Den Bürgern fließt patriotisches Blut durch die Adern, jeder freut sich über das Ende der tragischen Kriegsereignisse und blickt voller Hoffnung in die Zukunft. Der Sokol-Verein bildet sich wieder und konzentriert sich im sportlichen Bereich auf die Vorbereitungen für das Sokol-Treffen 1948. Die Turner trainieren fleißig ihre einstudierten Übungen und die durch den Zweiten Weltkrieg erzwungene neunjährige Pause steigert ihre Ausdauer. Im Februar 1948 aber kommt es zur Machtübernahme durch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, der die Aktivitäten der Erben von Miroslav Tyrš durchaus nicht gefallen. Der angetretene kommunistische Totalitarismus entscheidet sich aber, den bereits angelaufenen Vorbereitungstrubel nicht zu unterbrechen, und so findet das XI. Sokol-Treffen in Prag statt.

Es ist ein sonniger Julitag und aus jeder Ecke unseres Landes steuern Scharen von Sokol-Turnern voller Vorfreude in die Hauptstadt. Prag verjüngt sich wieder für einige Tage. Als sich alle Augen im Strahov-Stadion auf die Sokolisten in ihren Uniformen richten, ahnt noch keiner, dass sie sich erst ein halbes Jahrhundert später wieder solch eine Show würden ansehen können. Die Frauen machen nämlich statt der erwarteten Bewegung „Augen rechts!“ einen vorab verabredeten Dreh in die entgegengesetzte Richtung und die Kommunisten auf den Tribünen haben so einen weiteren Vorwand. Keiner kann sie daran hindern, die Sokol-Organisation abzuschaffen. Die Aktivitäten der tschechoslowakischen Sokol-Gemeinde sind gestoppt. Einige ihre Mitglieder emigrieren ins Ausland und setzten die Bestrebungen des Sokol in den Landsmannschaften fort, andere werden verhaftet und eingesperrt, andere fügen sich den neuen Vorgaben der sozialistischen Erziehung. Aber wohin mit den 2253 Turnern? Die Lösung kommt bald. Die Vereinstätigkeit wird den Gewerkschaften übertragen und für das Jahr 1955 plant man die erste Spartakiade – einen kollektiven Sportauftritt, der die Sokol-Treffen ersetzen soll. Die Form bleibt, die Idee ändert sich.


Sokol 1947
Archiv Milada Chudlařská

Auf den ersten Blick sieht man zwischen dem Programm des Sokol-Treffens und der Spartakiade keinen Unterschied. In Wirklichkeit darf aber auf der Spartakiade nichts auftauchen, was an die Ideen und Symbole des Sokols erinnern würde. Die Sokol-Ausrufe »Jeder Tscheche ein Sokol!« und »Für das Volk, die teure Heimat!« werden durch die Slogans »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat!« oder »Es lebe die Sowjetunion – unser Befreier!« ersetzt.

In den Städten verschwindet der Name Sokol völlig, kleinere Vereine in den Dörfern dürfen ihn aber belassen. Die Vertreter der Kommunistischen Partei ernennen ihre Mitarbeiter zu Führern der einzelnen Turneinheiten, damit sie die Vereinstätigkeit im Sinne der kommunistischen Ideologie überwachen können. Die Bemühungen, den Sokol-Bund 1968 wiederherzustellen, erstickt die „Normalisierung“, und mit dem Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes verlöschen alle Chancen zur Erneuerung der Sokol-Ideale.«

»Wenn ich die Bedingungen und die Umstände, unter denen die Spartakiaden stattfanden, außer Acht lasse, muss ich zugeben, dass sich ihr Niveau stetig verbesserte. Die Organisation war perfekt, alles lief bis auf die Minute genau ab. Falls eine der Turnerinnen nicht erschien, schickte man nach einem Ersatz. Die Ersatz-Turnerin hatten ihre eigene Nummer und so konnte sie exakt die Lücke füllen, die aufgrund des fehlenden Mädchens entstand«, erinnert sich Milada Chudlařská und setzt ihre Erzählung über die Zeit nach 1989 fort: »Nach der Samtenen Revolution wurde die Tätigkeit des Sokol-Vereins wiederaufgenommen. Schon zum vierten Mal. Er knüpft an die Traditionen an, modernisiert aber gleichzeitig sein Programm, und alle sechs Jahre finden die Sokol-Treffen statt.«

Spartakiade 1955
Archiv Milada Chudlařská

Der Beginn der neuen Sokol-Ära ist aber nicht leicht. Man kämpft um die Rückgabe des von den Kommunisten gestohlenen Eigentums und erlebt auch Generationsprobleme. Zur Wiedergeburt der Ideen von Tyrš und der Verjüngung ihrer Reihen tragen auch die Mitglieder bei, die in den Sokol-Verein im Štrunc-Park kommen. Ihre Aktivitäten hält nicht einmal die Überschwemmung auf, die Pilsen im August 2002 heimsucht und in das Gebäude über ein Meter hohes verschmutztes Wasser spült. Glücklicherweise nimmt alles ein gutes Ende. In den Jahren 2010 bis 2012 wird das Gebäude von außen umfassend renoviert, und im neuen Gewand begrüßt es täglich viele Sportler aus verschiedenen Vereinen, die es bestimmt zu schätzen wissen, dass man allmählich auch den öffentlichen Raum im Štrunc-Park modernisiert, der schon seit jeher der Ort ist, an dem sich die Pilsener sportlich betätigen können

Übersetzung: Kristina Veitová und Tanja Krombach

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