Dienstag, 30. Juni 2015

Noch einmal zu Adolf Loos


Der Brünner Architekt und seine Pilsner Auftraggeber

Sie waren seine Klienten, und so möchte ich heute etwas über sie und ihre Familien erzählen. Auch über ihr Schicksal, ihr meist tragisches Schicksal. Es waren wohlhabende jüdische Unternehmer in Pilsen, und in Adolf Loos hatten sie einen Innenarchitekten und Designer gefunden, der das Kapital der viel beschäftigten Männer zur Freude der verwöhnten, gelangweilten Frauen in Wohnungsinterieurs umzusetzen verstand. In Inneneinrichtungen, die noch heute, nach fast hundert Jahren, unglaublich schön, elegant und zeitlos wirken und jedem Designer auf der Suche nach Stil und Funktionalität als Vorbild dienen sollten.

Adolf-Loos-Porträt in der Wohnung in der Bendova Nr. 10 in Pilsen

Tragische Geschicke also unter Adolf Loos’ Auftraggebern. Geschicke, die nach Theresienstadt und Auschwitz führen. Und nach Olmütz, wo Edita Hirschová im September 1942 in den Zug AAo nach Theresienstadt und von dort in den Zug Cu nach Auschwitz gesetzt wurde. Wo sie starb. Nein, Edita Hirschová/Edith Hirsch gehörte nicht zum Kundenkreis von Adolf Loos. Sie war eine 1908 geborene, junge tschechische Malerin, die sich in Paris eine vielversprechende Karriere aufzubauen begonnen hatte, als sie zur Todesfahrt verhaftet wurde. Im Haus der mit ihr verwandten Familie Brummel in der Husova in Pilsen befindet sich ein Gemälde von ihr. Und der Guide wird es nicht müde, von ihr zu erzählen.

Die tschechisch-jüdische Malerin Edita Hirschová (1908–1942)

Ein Gemälde von Edita Hirschová im Brummel-Haus in der Husova Nr. 58

Dieses vom österreichischen Maler Robert Aigner (1901–1966) geschaffene Fresko einer südländischen Landschaft sollte Bewohner und Besucher der Wohnung in der Husova Nr. 58 vom Blick auf die hässlichen Industriebauten ringsum ablenken.

Er erzählt auch von der Familie Liebstein, die das Haus Husova Nr. 58 erworben hatte, vom Zusammenleben der Witwe Hedvika/Hedwig Liebstein mit Jana und Jan Brummel, ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Hedvika Liebstein kam 1943 in einem Konzentrationslager ums Leben, Jan und Jana überstanden Theresienstadt und Auschwitz und Bergen-Belsen und kehrten nach dem Krieg wieder in ihre tschechoslowakische Heimat zurück.

Grabstein für Hedvika Liebsteinová und ihren Mann Wilhelm Liebstein auf dem jüdischen Friedhof in Pilsen


Wohnung im Brummel-Haus in der Husova Nr. 58


Farbliche Harmonie bis ins kleinste Detail

Eine der schönsten Loos’schen Inneneinrichtungen, die Pilsen zu bieten hat, ist die Wohnung in der Bendova Nr. 10. Vilém Kraus und seine Frau Gertrud, eine Tochter des Chemiefabrikanten Taussig, waren die Besitzer. Vilém (oder Willy oder Wilhelm) gelang es im Jahr 1939 rechtzeitig, sich nach England abzusetzen. Seine Frau und seine zwei Kinder schafften es nicht, ihm nachzureisen. Sie wurden am 18. Januar 1942 nach Theresienstadt transportiert, dann weiter ins Ghetto Zamość in Ostpolen. Wahrscheinlich wurden sie dann in einem Vernichtungslager in Polen – Belżec oder Sobibor – ermordet.

Interieur in der Bendova Nr. 10 mit der Loos'schen Handschrift: edelste Materialien und glänzende Spiegel




Raffiniert ausgeklügelte Durchblicke

Loos’ Lieblingsfarben: Rot, Blau und Grün – hier (oben und unten) in der Wohnung Bendova Nr. 10






Zur organisierten Loos-Tour in Pilsen gehört auch die Wohnung in der Klatovská třída Nr. 12, die gegen Ende der zwanziger Jahre von Josef Vogl und seiner Frau Štěpánka den Bedürfnissen einer Arztpraxis plus Wohnung angepasst wurde. Zuvor hatten hier der Drahtgitterfabrikant Otto Beck und seine Frau Olga gelebt, hier waren auch die Kinder geboren: 1903 Eva, 1904 Klara und 1910 Max-Klaus.

 
Wohnung in der Klatovská třída Nr. 12

Adolf Loos’ Schwiegermutter Olga Beck, die Frau von Otto Beck, einem seiner ersten Bewunderer in Pilsen, kam 1942 in einem KZ ums Leben. Und ihre Tochter Klara/Claire Beck, Adolf Loos’ dritte Frau, die vom September 1941 an den Judenstern tragen musste, starb zu einem unbestimmten Datum im Ghetto oder KZ in Riga. Loos hatte diese Tragödien nicht mehr erlebt. Er war schon im Jahr 1933, wenige Monate nach der Scheidung von Claire/Klara Beck, in einem Sanatorium bei Wien gestorben. 

Klara/Claire Beck, Adolf Loos’ dritte Frau (1904–1942?)

Olga Beck, Klaras Mutter (1879–1942)



Der Grabstein für Otto Beck, Klaras Vater, und Eva Schanzer, Klaras Schwester, auf dem jüdischen Friedhof in Pilsen


Kein Adolf-Loos-Interieur in Pilsen ohne ein tristes Umfeld. Was einen Besuch dieser Wohnungen über das ästhetische Erlebnis hinaus zu einer großen, unvergesslichen Emotion macht. Und Adolf Loos’ Probleme mit der Justiz – gerade in seiner Pilsner Zeit Ende der zwanziger Jahre kam er wegen Unzucht vor Gericht – lässt man für die Dauer der Besichtigung am besten vor der Haustür (der sowieso äußerlich wenig attraktiven Häuser, die ich schon in einem vorausgegangenen Post vom 4. Juni – „Adolf-Loos-Interieurs einmal anders. Pilsner Loos-Wohnungen von außen“ – gezeigt hatte).

Mit Claire/Klara Beck und ihren Eltern Otto und Olga Beck habe ich mich jetzt einem Thema genähert, das ich – nach eingehenden Recherchen vor Ort – nach meinem Pilsen-Aufenthalt (muss er wirklich aufhören?) ausarbeiten will. Vielleicht wird eine Biografie über Klara/Claire Beck/Becková daraus?

Mein Hund Zampa studiert inzwischen die Apps zur Besichtigung der Loos-Interieurs ...



… und im nahen Intellektuellentreff „Inkognito“ scheint man von den Loos’schen Farbkombinationen gelernt zu haben.


Samstag, 27. Juni 2015

Eine unerwartete Begegnung


Maruška und Herr Lederer

Es geht mir immer so: Ich treffe mich in Pilsen oder einem Pilsen-nahen Ort mit einer Person, um sie kennen zu lernen, von ihr zu erzählen und über ihre Arbeiten oder Projekte zu berichten. Gewöhnlich kommt Interessantes dabei heraus, was ich dann für meine Posts verwende. Aber meistens ergibt sich aus der Begegnung und dem Gespräch dann unerwartet auch immer ein ganz neues Thema.

Ein „kaschiertes“ Selbstporträt von mir
 
So hatte mir meine tschechische Freundin Lenka geraten, doch einmal nach Mešno hinüberzufahren. Das nicht einmal 100-Seelen-Dorf liegt an die 20 Kilometer südöstlich von Pilsen, auf halbem Wege zwischen Mirošov, auf dessen Schlossgeschichte ich noch zurückkommen werde, und dem ganz und gar barock geprägten Städtchen Spálené Poříčí, wo in wenigen Tagen die symbolische Eröffnung des bewundernswert organisierten Festivals „9 TÝDNŮ BAROKA/9 WOCHEN BAROCK“  stattfindet (es dauert vom 29. Juni bis zum 30. August). Eine Frau aus dem Ort habe, so hatte mir Lenka erzählt, dort in Mešno ein kleines volkskundliches Museum zusammengestellt, ganz aus eigener Initiative und aus eigenen Kräften.

So mache ich mich auf die Suche nach Marie Musilová – was in einem so kleinen Dorf kein Problem ist. Maruška? Ja, die wohne dort drüben, in dem gelb-blauen Haus bei der Kirche. Ich möchte inzwischen gern die Kostel Nejsvětější Trojice besuchen, die nach dem Brand einer älteren Barockkapelle vor 110 Jahren in neugotischem Stil wiederaufgebaute Dreifaltigkeitskirche. Aber sie ist geschlossen. Wie fast alle Kirchen in Tschechien. Und Marie-Maruška, die inzwischen herübergekommen ist, schämt sich wegen der ungekehrten, blätterbedeckten Stufen um die Kirche.

Marie Musilová am Eingang zum 300 Jahre alten Speicher

Da sieht es bei ihr ganz anders aus. Im gepflegten Garten ihres Hauses laden attraktiv gestaltete Tafeln zum Besuch des Mešenský špejchárek ein, des kleinen, aus dunklen Holzbalken gezimmerten „Kornspeichers in Mešno“. Sie tut eine Tür auf – „Sie ist 300 Jahre alt, wie der Speicher“ – und zeigt stolz, was sie hier alles zusammengetragen hat: Tassen und Flaschen, Pfannen, Messer und Gabeln, Kannen, Krüge und Waschschüsseln, Ton- und Emailtöpfe, Kaffeemühlen, Reibeisen, Bügeleisen und Nachttöpfe, Stickereien und Häkelarbeiten, fromme Bilder und Kruzifixe und vieles andere mehr. Was sie im Dorf finden konnte, hat sie hier in den Speicher gebracht, den sie mit ihrer Familie in monatelanger Arbeit restauriert hat. 

Alte Balken des Speichers






Vor dem Speicher macht sie mich auf eine Bildtafel mit einem holzgerahmten Foto aufmerksam: „Maruška“ weist ein Pfeil auf ein kleines Mädchen. Es ist ihre im Jahr 1921 geborene Mutter, Marie-Maruška wie sie, auf dem Foto mag die Mutter sechs Jahre alt sein. Also um das Jahr 1927. Auf der einen Seite von Maruška steht der damalige Pfarrer von Mešno, auf der anderen Richard Lederer. Er hatte einen Gemischtwarenladen, ein fleißiger, im Dorf beliebter und geschätzter Geschäftsmann. Der auf einmal, gegen Anfang der vierziger Jahre, keine Stoffe und Strümpfe und Waschmittel und Gewürze mehr verkaufen konnte. Durfte. Denn er war Jude. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nicht mehr aus Auschwitz zurück.

Richard Lederer, Maruška und der Pfarrer von Mešno auf einem Foto um das Jahr 1927

Im ebenfalls jahrhundertealten Wohnhaus zeigt Marie Musilová mir das Originalfoto von ihrer Mutter Maruška, dem christlichen Pfarrer und dem jüdischen Händler. Auch ihr scheint die Geschichte sehr zu Herzen zu gehen.

Ohne es zu wollen, komme ich hier in und um Pilsen von gewissen Themen nicht weg: von der Vertreibung der Deutschen, von der Nichtakzeptanz der Roma und von der Verfolgung der Juden. Allein aus der Stadt Pilsen wurden im Januar 1942 etwa 2600 Juden, die in das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Stadt bestens eingegliedert waren, in deutsche Konzentrationslager abtransportiert. Die wenigsten überlebten. Den gleichen tragischen Weg gingen viele andere jüdische Mitbürger aus Städten und Dörfern der Region. Unter ihnen auch Richard Lederer aus Mešno. Ein Einzelschicksal dieses Völkermords ist oft bewegender und erschütternder als tausend Zahlen.






Donnerstag, 25. Juni 2015

600 Jahre nach Nepomuk



 
Die fünf Nepomuk-Sterne an der Nepomukkirche im Städtchen Nepomuk


Begegnung mit dem Bischof von Pilsen

Er fängt sofort zu erzählen an. Von Nepomuk, dem auf der ganzen Welt bekannten und verehrten Brückenheiligen, von dessen Konflikt als Generalvikar des Prager Erzbischofs mit dem damaligen König Wenzel IV. („Er war dem Alkohol sehr zugetan“, bemerkt er leicht ironisch), wie er von Getreuen des Königs, vielleicht sogar unter Mitwirkung des Königs selbst, gefoltert, übelst misshandelt und so zusammengeschlagen wurde, dass man ihn, um Quälereien und Torturen verborgen zu halten, halbtot oder schon tot in die Moldau stürzte. Wo fünf Lichter zu leuchten begannen. Die fünf Sterne, die der heilige Nepomuk auf fast allen Statuen um sein Haupt trägt.



Statue des hl. Nepomuk im Museum für Kirchenkunst in Pilsen. Das Kind zu seinen Füßen mit dem vor den Mund gelegten Zeigefinger ist eine Anspielung auf das Beichtgeheimnis, das Johannes von Nepomuk trotz königlicher Drohungen nicht brechen wollte.





Die fünf Sterne, die im Wappen der Diözese Pilsen zu finden sind und auch im Wappen des Pilsner Bischofs.



Das Wappen der Diözese Pilsen




Denn „er“, der mir die Nepomuk-Geschichte erzählt und bildhaft ausmalt, ist Seine Exzellenz František Radkovský. Im Jahr 1993 wurde er zum ersten Bischof in der Geschichte Pilsens ernannt. Genau 600 Jahre nach dem Tode Nepomuks.



František Radkovský, seit 1993 erster Bischof von Pilsen


Schon 1393 hätte eine westböhmische Diözese gebildet werden sollen, mit Sitz im damals sehr mächtigen Benediktinerkloster Kladruby/Kladrau. König Wenzel hätte es so gewollt, die Patres und Johannes von Nepomuk dachten es anders. Dies war wohl einer der Gründe der tätlichen Zwistigkeiten, die dann zum Tode Nepomuks führten. War es Prädestination, dass die heutige westböhmische Diözese in Pilsen nach genau 600 Jahren entstanden ist? Mehrere Historiker schon haben diesen sonderbaren Zufall hervorgehoben, seine „Schäfchen“ sehen in Radkovský gern einen geistigen Nachfolger Nepomuks.



Teilansicht der Klosterkirche in Kladruby


Bischof Radkovský ist nicht nur ein charmanter (darf man das von einem Bischof sagen?) Erzähler, sondern ein weit über die Grenzen seiner Diözese, ja des Landes hinaus geschätzter geistlicher Würdenträger. Er spricht perfekt Deutsch, kennt die früheren deutschen Namen aller Ortschaften in seiner Diözese, pflegt freundschaftliche Beziehungen zum Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer (den er im Gespräch vertraulich als „Bischof Rudolf“ bezeichnet), nimmt an tschechisch-deutschen Wallfahrten diesseits (Böhmen) wie jenseits (Bayern) der Grenze teil, fördert jede Art von grenzüberschreitenden Programmen und Projekten im religiösen Leben. Sicher ist es auch seinem Engagement und seiner glaubwürdigen Sympathie zu verdanken, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten mehr als 50 Kirchen in ehemals sudetendeutschen Dörfern durch Spenden von Deutschen renoviert werden konnten. „Versöhnung“ und „Brücke“ sind die Passwords, die ihm Achtung auf internationaler Ebene und Sympathie im Lande eingebracht haben.



Schon im Jahr 1997 hat Bischof Radkovský die aus Tschechien vertriebenen Sudetendeutschen um Verzeihung gebeten. Warum das nicht alle Tschechen könnten, ist meine Frage. „Das braucht Zeit“, gibt er zur Antwort, „auch Moses brauchte 40 Jahre Zeit, um das Volk Israel als freie Menschen ins heilige Land zu bringen. Versöhnung braucht Zeit!“ Aber er ist überzeugt, dass sie jetzt unter den jungen Generationen, die kein belastetes Gewissen mehr haben, möglich ist.



Wir kommen auch auf die Religion in Tschechien zu sprechen, auf die ständig sinkenden Zahlen von Personen, die erklären, einer – katholischen, evangelischen, hussitischen, orthodoxen – Kirche anzugehören. So sagen es die Statistiken. „Die Statistiken? Ich bin selbst Statistiker und weiß daher, wie Meinungsumfragen manipuliert werden können.“ Er sei überzeugt, dass die jetzt freien und jetzt wohlhabenden Tschechen auf der Suche nach einer anderen Dimension seien, dass sie vom praktizierenden Christentum noch weit entfernt seien, aber doch den Weg von Ungläubigkeit zum Glauben gehen, den Weg der Spiritualität.

Straßenaltar zu einem christlichen Feiertag


Kerzen am Nikolausfriedhof in Pilsen




Es ist spät geworden bei unserem Gespräch, später als vorgesehen. Die Sekretärin klopft an die Tür. František Radkovský wird zu einer Besprechung erwartet. Zum Abschluss drückt er mir eine Broschüre in die Hand: „Pilgern ist ,in‘. Wallfahrtsorte und Gebetsstätten der Diözese Pilsen“ von
Luděk Krčmář. Ich verabschiede mich schweren, aber doch leichten Herzens von diesem beispielhaften, guten Hirten. Und ich bin sicher, dass ich ihn in den kommenden Wochen auf einer der Wallfahrten wiedersehen werde.



Noch ein P.S.:

Bischof Radkovský war im vergangenen Jahr in die sensationsdurstige Medienwelt eingegangen, als er – als Ostergabe für den Papst – eine Partie Pilsner Urquell vor der Abfahrt gesegnet hatte: von Franz zu Franz, von Bischof František zu Papst Francesco. Auch andere Geistliche sind schon mit Wein- und Sekt- und Schnapsweihen prominent geworden. Aber Pilsner Urquell klingt eben besonders. Nach brüderlich-gemütlichem Beisammensein.


Mittwoch, 24. Juni 2015

Kleines Dorf – große Rolle


Die Rettung der Lipizzaner

Michaela Kodaková ist nicht nur eine hübsche junge Frau, eine tüchtige Wirtin im „Dvůr Svržno“ und eine freundliche Mutter von drei Kindern, sondern auch eine ausgezeichnete Reiterin: Als junges Mädchen hat sie mit ihrem Hengst „Hanibal“ eine tschechische Meisterschaft gewonnen. Jetzt führt sie mit ihrem Mann David das Gestüt Svržno in Hostouň – Ortschaften, die bis 1945 Zwirschen und Hostau hießen.



Und im Jahr 1945 spielte sich hier ein Husarenstück ab, das als „Operation Cowboy“ in die Geschichte eingegangen ist. Michaela erzählt, sobald sie die Gäste im gemütlichen restaurace bedient hat, gern davon, zeigt voller Begeisterung Fotos, Dokumente und Briefe in einem kleinen Museum, das sie in einem Nebengebäude des Gestüts eingerichtet hat. 

Michaela Kodaková in ihrem kleinen Museum


Kaum zu glauben: Aber in den letzten Kriegstagen verbündeten sich hier, in einem westböhmischen Dorf der Region Pilsen nahe der tschechisch-deutschen Grenze, Amerikaner und Deutsche, die heranrollenden US-Army-Angehörigen mit den abziehenden Wehrmachtskämpfern, zu einem tollkühnen Unternehmen: um an die 500 Pferde zu retten. Nicht einfache Pferde allerdings, keine Ackergäule oder bei Kriegsende abgemagerte Schindmähren, sondern das Beste vom Besten der internationalen Pferdedynastien. Hier in Hostouň/Hostau waren, als das Gebiet unter deutscher Besatzung stand, alle Pferde aus den berühmtesten, durch die Front gefährdeten und vom Vormarsch der russischen Truppen bedrohten Staatsgestüte zusammengezogen worden. Und die meisten waren noble, weiße Lipizzaner, die in der Spanischen Hofreitschule in Wien seit Jahrhunderten ihre unglaublichen Gehorsamskunststücke vorführten (und heute wieder vorführen). 

Eine Dressurübung mit Lipizzanerpferden in der Spanischen Hofreitschule in Wien


Um sie vor den Russen zu retten – bei denen sie, einem unfreundlichen Ondit zufolge, in den Kochtöpfen gelandet wären – trafen Amerikaner und Deutsche geheime Vereinbarungen. Pferdeliebhaber von der einen Frontseite einigten sich mit Pferdeliebhabern von der anderen Frontseite. Bei einem waghalsigen Coup retteten sie alle Pferde, die im Gestüt in Hostouň/Hostau untergebracht waren, und brachten sie bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Bayern. Trächtige Stuten auf in aller Eile herangebrachten Karren, die Hengste zu Fuß auf unwegsamen Waldpfaden. Sie dürften sich, könnte ich mir vorstellen, nach diesem eulenspiegelartigen Streich die Hände gerieben haben. Und nach dem Krieg konnte die Wiener Hofreitschule – erneut unter der Leitung von Oberst Alois Podhajsky, der auch in Hostau eine Hauptrolle gespielt hatte – bald wieder ihre formidablen Dressurnummern aufnehmen. Mit den aus einem abgelegenen westböhmischen Dorf geretteten Pferden. 

Oberst Alois Podhajsky auf einem Gemälde von Siegfried Stoitzner


 „Wir hatten Tod und Zerstörung so satt und wollten etwas Schönes tun“, war der schlichte Kommentar des amerikanischen Colonels Charles H. Reed, eines der Protagonisten dieser amerikanisch-deutschen Geheimmission. Die im Übrigen mit Einverständnis und Absegnung des US-Generals George S. Patton ablief, der am 5. Mai 1945 dann Pilsen befreite. Und der nicht nur ein kriegsdurstiger Kämpe war, sondern ein großer Pferdeliebhaber: „Get them. Make it fast“, hatte er befohlen, als er vor der Befreiung Pilsens von dieser „romantischeren“ Befreiung erfuhr: „Holt sie heraus. Aber schnell!“


Soldat bis auf die Knochen: US-General George S. Patton


Diese wirklich einmal schöne Geschichte, die sich allerdings vor dem Hintergrund von Krieg und Tod abspielte, wurde im Jahr 1963 von Walt Disney zum Hollywoodstreifen Flucht der weißen Hengste (Originaltitel Miracle oft he White Stallions) mit Robert Taylor und Lilli Palmer als Hauptdarsteller verfilmt, und der holländische Schriftsteller Frank Westermann nahm sie in seinen 2012 erschienenen Roman Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts* auf.

Zwirschen/Svržno auf einer alten Ansichtskarte

Svržno/Zwirschen heute



Wie ich auf diese Geschichte gestoßen bin? Manchmal betätige ich mich eben hier in und um Pilsen nicht nur als Stadtschreiberin, sondern auch als Amateurdetektivin. Ein bisschen Miss Marple, der ich ja vielleicht etwas ähnle. Eine ältliche Dame, die dasselbe Freizeithobby hat wie ich: das Stricken. Und als Detektivin gehe ich schon seit Monaten den Spuren von zwei Onkeln von mir nach. Zwei Brüder meiner Mutter, die Priester waren. Der eine in Hostouň/Hostau und Mutěnín/Muttersdorf, der andere in Újezd u Svatého Kříže/Heiligenkreuz. Eben in Nachbarorten hier in der grenznahen westböhmischen Gegend, in der die Lipizzaner gerettet wurden und die Turnierreiterin Michaela Kodaková heute das Gestüt weiterführt, auf dem dieses aus Liebe zu den Pferden geschlossene Bündnis verfeindeter, aber couragierter Männer zustande gekommen war. Und beim Abschied erklärt Michaela mir, warum sie so gut Deutsch spricht: „Meine Großmutter war Deutsche“. Was ich hier in Westböhmen fast täglich höre. Da gibt es kaum jemanden, der nicht eine deutsche Großmutter, Mutter, Tante, Schwägerin oder einen deutschen Großvater, Vater, Onkel, Schwager gehabt hätte oder hätte. Das sollte eigentlich helfen, alle deutsch-tschechischen Spannungen abzubauen.




* Frank Westermann, Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, München: C.H. Beck 2012

www.konesvrzno.cz

Samstag, 20. Juni 2015

Stadtschreiberin-Vorgeschichte




Wiedersehen mit Milan Novák

Gestern hat mich Milan Novák besucht, der Ko-Autor meines Buchs „Böhmen hin und zurück“. Er hatte Namenstag und war mit seiner Frau von Kosmonosy zu mir nach Rokycany gekommen. Was das mit Pilsen zu tun hat? Mit Pilsen direkt eigentlich nicht, aber mit meiner Arbeit als Stadtschreiberin in Pilsen schon.

So will ich heute, statt Geschichte und Geschichten zu erzählen, einmal etwas in die Vorgeschichte gehen. In die Vorgeschichte meines Pilsner Aufenthalts.

Vor vier Jahren hatte ich bei Fotoarbeiten zu einer Ausstellung über den österreichischen Maler und Grafiker Rudolf Kalvach (1883–1932) in Kosmonosy nordöstlich von Prag Milan Novák kennen gelernt. Den Neurologen Novák in der Psychiatrischen Klinik in Kosmonosy. Glücklicherweise hatte ich ihn nicht als Arzt gebraucht, aber er unterstützte mich bei meiner Fotoarbeit als immer gegenwärtiger Helfer und profunder historischer Berater.  

Einige der Fotografien, die ich in Kosmonosy gemacht hatte, wurden dann im Jahr 2012 bei der ersten umfassenden Rudolf-Kalvach-Ausstellung im Leopold Museum in Wien als Gigantografien gezeigt. Und Milan Novák setzte seine Recherchen über Rudolf Kalvach fort: Im Herbst 2012 fand in Kosmonosy die Ausstellung „Rudolf Kalvach. Kunst, Leben, Krankheit. Wien, Triest, Kosmonosy“ statt, ein Teil dieser Ausstellung wurde im Sommer 2014 in Rychnov nad Kněžnou/Reichenau an der Knieschna, dem Geburtsort von Kalvachs Vater, gezeigt, und 2013 erschien der von Milan Novák und Václav Petřiček veröffentlichte Katalog „Rudolf Kalvach – život, dílo a nemoc“ (als CD-ROM auch auf Deutsch „Rudolf Kalvach – Leben, Werk und Krankheit“). So haben meine Fotoarbeiten in Kosmonosy mehrere „Kinder“ gezeugt: umfassendere Rudolf-Kalvach-Recherchen, mein Böhmen-Buch und meine Stelle als Stadtschreiberin in Pilsen.

Eines meiner Schwarzweißfotos aus der Nervenheilanstalt in Kosmonosy

Bei den halb auf Deutsch und halb auf Englisch geführten Gesprächen waren Milan Novák („Meine Mutter hat mir immer gesagt: Lerne Deutsch!“) und ich dann auf meine Familiengeschichte gekommen. Und auf seine. Es gab sonderbare Übereinstimmungen. Meine anfängliche Idee, ein Buch über Rudolf Kalvach zu schreiben – eine Biografie in Romanform –, kam dann in die Schublade. Weil ich lieber mein Leben als in Böhmen Geborene unter die Lupe nehmen wollte.

So entstand mein Buch „Böhmen hin und zurück“, mit mehreren, signifikanten Beiträgen von Milan Novák. Das auf Deutsch und Italienisch verfasste Buch erschien im Winter 2013. Bei den Bozner Filmtagen im Frühjahr 2014 wurde der Film „Böhmische Dörfer“ gezeigt. Jana Cisar, die tschechisch-deutsche Produzentin, und Peter Zach, der österreichisch-deutsche (gibt es das?) Regisseur, animierten mich: Es gäbe doch da ... und es würde doch immer ... und ich sollte doch mal versuchen, mich um die jährlich vom Deutschen Kulturforum östliches Europa ausgeschriebene Stadtschreiberstelle zu bewerben. So arbeitete ich ein Projekt aus und schickte es gerade noch rechtzeitig nach Potsdam. In der Anlage ging das von mir und Milan Novák verfasste Buch mit.

Dann, einige Wochen später, der Anruf von Dr. Harald Roth, dem Direktor des Kulturforums (ich saß gerade in meinem Lieblingscafé in Pergine Valsugana). Und jetzt bin ich hier, stolze Stadtschreiberin in Pilsen.

Aber ohne Rudolf Kalvach und seine tragische Lebensgeschichte

Rudolf Kalvach, österreichischer Maler und Grafiker, starb in der tschechoslowakischen Nervenheilanstalt Kosmonosy.

ohne Milan Novák



ohne Jana Cisar und Peter Zach (die ich schon in einem meiner vorausgegangenen Einträge über das Pilsner Filmfestival Finale vorgestellt habe) wäre ich niemals auf die Idee gekommen, mich an dem Stipendium-Wettbewerb zu beteiligen, und niemals hätte ich gedacht, dass auch Träume Wirklichkeit werden können. Und mein Traum war: einige Monate in Tschechien zu verbringen und meine Beziehung zu meinem Geburtsland und dessen Bewohnern auszuloten.

So, das wäre jetzt meine Stadtschreiberin-Vorgeschichte. Aber es vergeht keine Woche, in der ich mich nicht an Milan Novák wenden würde. Nicht an den Neurologen Novák, sondern an den Historiker, der auch auf meine schwierigsten und heikelsten Fragen eine Antwort findet. Eine immer sehr schnelle Antwort. Und wir fragen uns, ob und wann wir das nächste Buch zusammen schreiben.







Meine Nothelfer

Heute führe ich eine neue Mini-Rubrik ein: die meiner Nothelfer und Schutzengel (dabei fällt mir gerade auf, dass das Wort „Engel“ keine weibliche Form hat). Mir aber standen bis jetzt besonders weibliche Schutzengel zur Seite. So möchte ich sie nach und nach vorstellen.

Von Šárka Krtková war schon in einem meiner vorausgegangenen Posts die Rede („Spaziergang an der Radbuza“). Eine andere Šarka kam mir bei einem kürzlichen Live-Interview im Tschechischen Radio Pilsen zu Hilfe. Als perfekte Simultandolmetscherin.

Šárka Kuthanová

Šárka Kuthanová, 31 Jahre alt, wurde in Pilsen geboren, wo sie heute wieder lebt. Während der Gymnasialzeit verbrachte sie ein Schuljahr als Gastschülerin bei einer deutschen Familie in Weiden in der Oberpfalz. Solche Austauschprogramme bestehen – zum Beispiel –  zwischen dem Masaryk-Gymnasium in Pilsen und dem Augustinus-Gymnasium in Weiden. „Ein hübsches Städtchen“, kommentiert sie, „es war eine schöne Zeit“. Nach dem Abitur studierte sie Germanistik und Psychologie in Pilsen, schloss ihr fünfjähriges Studium mit der Magisterarbeit „Entwicklungstendenzen in der Morphologie der deutschen Gegenwartssprache“ ab und ist heute in Pilsen als freie Dolmetscherin und Übersetzerin tätig.

Nach dem Rundfunkinterview gehen wir in ein nahes Café („Da gibt es sehr guten Kuchen!“). Das Gespräch kommt – fast zwangsläufig in Tschechien zwischen einer Tschechin und einer Deutschen – auf die Vertreibung. Auch auf die ehemals in heute tschechischen Dörfern lebenden Deutschen, die manchmal in „ihre“ alten Häuser hineinschauen, ja sich in ihrer jetzt von Neusiedlern bewohnten Wohnung umschauen möchten. Das geht manchmal gut, erzählt Šárka. Aber wenn ganze Busse aus Deutschland auf Alte-Häuser-Sightseeingtour anreisen, dann kommen ihnen die jetzigen Einheimischen nicht immer freundlich entgegen. Nach dem Motto: „Ich wohne in meinem Haus und mache die Tür zu!“

Und ehrlich gesagt: Wer möchte sich schon seine Wohnung immer wieder von Fremden anschauen lassen?



Montag, 15. Juni 2015

Eine Fotostrecke

Zur Abwechslung ...

Vor lauter Recherchen zu immer neuen Themen komme ich heute nicht zum Schreiben. Pilsen und seine Umgebung sind unglaublich reich, und wer mit offenen Augen durch die Gegend geht/fährt, findet Überraschendes, Unerwartetes, Unglaubliches. 

So gebe ich zur Abwechslung einmal nur Fotos ein, nicht eine eigentliche Fotostrecke, da die einzelnen Themen nichts miteinander zu tun haben. Aber damit die Aufnahmen nicht „verloren gehen“, da ich wahrscheinlich keinen eigenen Eintrag dazu schreiben werde, hier einfach eine zusammenhanglose Reihe.


Im Städtchen Horšovský Týn






im „Inkognito“, einem Intellektuellenlokal in Pilsen








im Schloss Nebílovy








an einem meiner geliebten Flüsse




 „meine“ böhmische Landschaft mit den weiten, offenen Horizonten






und schließlich – last, not least– die grafisch unglaublich interessanten Oberleitungen der Pilsner Straßenbahnen und Stadtbusse





















„Open up“ ist der Leitspruch der Kulturhauptstadt Pilsen. Und das möchte ich allen Besuchern sagen: „Open up“. Damit sie mit offenen Augen durch die Gegend gehen und merken, was um sie herum zu sehen ist.