Mittwoch, 23. September 2015

Mit etwas Wehmut


Meine fast letzten Pilsen-Tage

Seltsam: Eines meiner ersten Pilsen-Fotos war das Nové Divadlo, das im Herbst 2014 eröffnete „Neue Theater“, dessen schräge, durchlöcherte Betonfassade bei nicht vielen Einheimischen Anklang findet. Und meine (vorerst) letzten Pilsen-Fotos habe ich heute eben im Neuen Theater gemacht. So schließt sich schon wieder ein Kreis.

Die „durchlöcherte“ Betonfassade des vor einem Jahr eröffneten Neuen Theaters in Pilsen





Die Fassaden-„Löcher“ des Theaters eröffnen von innen her interessante Durchblicke.

Und gerade kurz vor Ende meines unvergesslichen Pilsenaufenthalts habe ich mich einer Tortur unterziehen müssen – richtiger gesagt: mit Vergnügen unterzogen. Es ist immer eine Freude, den Pilsener Top-Fotografen Radovan Kodera zu treffen, über den ich schon zu Beginn meiner Pilsenzeit einen Text eingegeben hatte.

Er hatte mich fragen lassen, ob ich zu einer Foto-Séance bereit wäre. Er macht großformatige, sehr statische Schwarzweißfotos, wie ich sie schon bei einer Pleinair-Ausstellung bewundert hatte. Wie hätte ich ein solches Angebot ablehnen können? Denn Radovan Kodera ist nicht nur ein außergewöhnlicher Fotograf, sondern auch ein liebenswerter Mensch. Eine halbe Stunde lang ließ ich mich in seinem Atelier im Dachgeschoss eines mittelalterlichen Hauses am Hauptplatz „foltern“: ich im grellen Scheinwerferlicht, er hinter einem altertümlichen Fotoapparat und unter einem dunklen Mantel versteckt. Bitte, den Kopf nach links, noch etwas weiter nach links, den Blick hier auf dieses Loch, bitte gerade sitzen, das Kinn etwas höher, die Schultern zurück, jetzt nicht bewegen … Ein Blitzlicht und schon war ich auf der Platte. Bei einer seiner nächsten Ausstellungen kann ich mich dann wohl begutachten. Jedenfalls verstehe ich jetzt mehr denn je, dass sich nicht alle Leute mit Begeisterung fotografieren lassen.

Foto-Tortur in Radovan Koderas Atelier

Das war gestern. Heute wurde im Neuen Theater eine Ausstellung von Professoren und Studenten der Fakultät für Kunst und Design der Westböhmischen Universität eröffnet. Unter den Arbeiten waren mehrere dieser großformatigen Kodera-Porträts. Und ich hatte Gelegenheit, das Nové Divadlo und seine umstrittene Fassade auch einmal von innen anzuschauen. Mir gefällt sie. Von außen wie von innen.

Zwei Schwarzweißporträts von Radovan Kodera sind derzeit im Neuen Theater zu sehen.

Dann fuhr ich, einstweilen zum letzten Mal, wieder über den Berg in Richtung Rokycany. Begleitet und geleitet von den immer rareren Oberleitungen und am jüdischen Friedhof vorbei, zwischen dessen Grabsteinen ich mehrmals hin- und hergewandert war, auf der Suche nach Namen, die ich mit den Adolf-Loos-Interieurs und besonders der Familie von Claire Beck (ich muss mehr über sie und ihren Tod in einem KZ im lettischen Riga erfahren) in Verbindung bringen konnte.

Wehmut? Ja, nein. In wenigen Tagen komme ich ja wieder, zu Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm. Hier in Pilsen, in meiner Geburtsstadt Trautenau/Trutnov, meinem Heimatdorf Radowenz/Radvanice und in Nordböhmen. Und auch Posts habe ich noch einige einzustellen: über das berüchtigte Gefängnis Bory, das ich vor ein paar Tagen mit leichter Gänsehaut besichtigt habe, über die fünf Flüsse, die Pilsen durchziehen und umarmen und mich immer von Neuem faszinieren. So schnell wird mich meine neue böhmische Heimat jetzt nicht wieder los.

Das moderne Pilsen spiegelt sich in der Radbuza.


Dienstag, 22. September 2015

Weltkultur im Böhmerwald


Sonntagsausflug nach Kašperské Hory

Ich hatte noch die lange Rückfahrt von Den Haag nach Pilsen in den Knochen und die wunderschönen Märchenhäuser im Diplomatenviertel der „Welthauptstadt der Gerichtsbarkeit“ vor Augen, als meine tschechische Freundin Lenka mich zu einem Ausflug einlud: zu einer kleinen Sonntagstour in den Böhmerwald hinunter. Da ich, eine ewig unruhige „Herumziehende“, solchen Einladungen nicht widerstehen kann, fuhren wir nach Kašperské Hory/Bergreichenstein. Und ich hatte nicht gedacht, dass es eine Fahrt in eine andere Welthauptstadt werden würde.

Eine Traumwohnung in Den Haag: Gibt es dort keine Stadtschreiberstelle?


Giebel des Rathauses in Kašperské Hory
 
Die gotische Kirche der hl. Margarethe in Kašperské Hory: Auch hier hat ein Onkel von mir in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kaplan gewirkt.

Wien? Prag? Nürnberg? Was sind sie schon im Vergleich zu Kašperské Hory? Hier, in dem 758 Meter hoch gelegenen 1500-Einwohner-Städtchen, kreuzen sich die Fäden der Geschichte. Vom Mittelalter an führte durch die Gebirgsstadt und ihre Umgebung der bedeutendste Handelsweg des europäischen Festlandes, von Südfrankreich in den arabischen Osten. Durch Böhmerwaldtäler, die heute als stille Erholungsgebiete propagiert werden, zogen unablässig endlose Karawanen aus Lasttieren, die mit den kostbarsten Schätzen der damaligen Zeit beladen waren: mit feinen Seidenstoffen, orientalischen Gewürzen und damals sündteurem Salz, die den Einheimischen das Flair der weiten Welt vorführten, aber auch mit Wolle und Leder, Hopfen und Honig aus den böhmischen Ländern. Und dazu der „Goldene Steig“, der seinen Namen zu Recht trug. Denn die Berge rund um Kašperské Hory waren voller Gold, sind es auch heute noch. Doch das Angebot internationaler Konzerne, die dieses Metall heute schürfen möchten, wurde von den Einheimischen strikt abgelehnt: Eine gesunde Umwelt ist ihnen lieber.

Vladimír Horpeniak, der historische Leiter des Böhmerwaldmuseums, erzählt mit wachsendem Enthusiasmus von seinem Heimatstädtchen, das vom Mittelalter an von Königen und Kaisern umworben war: eben eine damalige Weltstadt an einer internationalen Handelsroute. Und er führt uns durch die Ausstellung „Die gotische Kunst in der Gegend der Flüsse Otava und Úhlava“ mit reich vergoldeten Flügelaltären und einzigartig schönen Madonnenstatuen, die alle hier im südwestböhmischen Raum entstanden sind.

 
Lenka Němečková und Vladimír Horpeniak neben einer gotischen Madonnenstatue

 
Hier und nachfolgend mehrere gotische Madonnenstatuen in der Ausstellung über gotische Kunst im Böhmerwaldmuseum in Kašperské Hory








Gotische Fresken in der Nikolauskirche in Kašperské Hory
Bemalte Decke und Empore in der Nikolauskirche

Viele der zauberhaften Gläser aus dem Besitz des Museums stammen aus der Glashütte Lötz im benachbarten Dörfchen Klášterský Mlýn/Klostermühle. Auch hier wieder der Wind der großen, weiten Welt. Für die weltberühmte Kunstglasmanufaktur, die 1945 mit der Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung geschlossen wurde, entwarfen Wiener Architekten und Designer wie Josef Hoffmann, Koloman Moser, Otto Prutscher, Michael Powolny und andere Künstler der Wiener Werkstätte Glaskunstwerke, um die Museen und Sammler sich heute reißen.

Unglaublich, was an großer Kultur auch in diesen nur scheinbar abseitigen Gebirgsgegenden zu finden ist. Vielleicht hat Vladimír Horpeniak doch Recht, Kašperské Hory für den Nabel der Welt zu halten? 

Die Bergsynagoge in Hartmanice

Nur ein paar Kilometer weiter, und Lenka und ich legen einen neuen Halt ein. Die vorbildlich restaurierte Synagoge in Hartmanice/Hartmanitz präsentiert sich mit einer Ausstellung, in der viel von Juden, jüdischer Geschichte und Judenverfolgung erzählt wird. Vor allem aber vom tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenleben, das hier bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur möglich war, sondern zur jahrhundertelangen gegenseitigen Beeinflussung von Kulturen geführt hat. Hinterwäldlertum in versteckten Böhmerwaldtälern? Nein, das ist Verständnis über alle Grenzen hinweg. Vor allem über die in unseren Köpfen.

 
Božena Stejkalová

Božena Stejkalová, die Aufseherin im Museum der Bergsynagoge in Hartmanice/Hartmanitz, wünscht uns gute Reise, und Lenka und ich fahren einem prachtvollen böhmischen Sonnenuntergang entgegen.


Donnerstag, 17. September 2015

Auf Entdeckungstour in Bezdružice/Weseritz


Eine vergessene Synagoge

Škoda. Schade, wirklich schade. Eine so interessante Synagoge in einem so erbärmlichen Zustand. Von außen gleicht sie einem Schuppen, innen präsentiert sie sich mit Frauenemporen und Resten von Stuckverzierungen und allerdings sehr verblassten Deckenmalereien, wie sie im Pilsener Raum nur in wenigen Synagogen zu finden sind.

Ich war an Bezdružice/Weseritz schon mehrmals vorbeigefahren, auf dem Weg nach Konstantinovy Lázně/Konstantinsbad und nach Planá/Plan. Diesmal aber schaute ich mir die Ortschaft genauer an. Mein Fremdenführer für einen Tag war Sven Müller, eifriger Leser meines Blogs, Nepomukfan und Abkömmling einer deutschen Familie aus Weseritz. Seine im Jahr 1946 ausgesiedelte Mutter ist hier 1942 geboren, und die Geschichte seiner Familie mütterlicherseits hat er im akkurat recherchierten Buch „Die Holdschicks aus Weseritz“* zusammengefasst.

Sven Müller vor dem ehemaligen Haus seiner Großeltern


So kamen wir auch zur Synagoge, die niemand äußerlich als Synagoge erkennen würde. Sie war 1820 errichtet worden, von einer damals sicher ansehnlichen jüdischen Gemeinschaft, die im ausgehenden 19. Jahrhundert sogar elf Prozent der einheimischen Bevölkerung von Weseritz/Bezdružice ausmachte. Nach längeren Verhandlungen mit dem freundlichen Besitzerpaar durften wir auch hinein. Irena und Karel entschuldigten sich für den schlechten Zustand des Innenraums, für das hier garagierte Auto und das Holz- und Gerümpel-Durcheinander, wie es eben in einem Schuppen zu finden ist. Sie tun ihr Bestes, um den Bau wenigstens vor dem Verfall zu bewahren. Aber eine altehrwürdige Synagoge als Lagerraum tut weh, und zur Instandsetzung wäre Geld nötig. Dass sich da wirklich niemand findet, um dieses Denkmal jüdischer Kultur zu retten, bevor es zu spät ist?

Eine der Frauenemporen und Reste von Stuckornamenten und sehr verblassten Deckenmalereien



Irena und Karel mit Sven in der als Garage benutzten Synagoge



Sven und ich gingen dann durch das Dorf, vorbei an Häusern mit abblätterndem Putz, unter dem noch Spuren deutscher Namen zu erkennen sind,




vorbei am Floriansdenkmal mit reizenden Anrufen der Heiligen Nepomuk und Veit in deutscher Sprache.








Wir besuchten auch Jan Florian, den sympathischen, gebildeten und begeisterten Koordinator eines LEADER-Entwicklungsprogramms in Westböhmen. 

 
Jan Florian, der Koordinator eines westböhmischen Entwicklungsprogramms

Wir gingen zusammen essen. Ins Schloss-Restaurant. In der Hoffnung meinerseits, das alte, in mehreren Jahrhunderten umgestaltete Schloss und vor allem seine großartigen Glassammlungen besichtigen zu können. Aber ein neuer, offensichtlich gut betuchter Besitzer lässt das Bauwerk zwar aufwändig restaurieren, hält die Tore aber fest verschlossen.

Das Schloss Bezdružice beherbergt wertvolle, öffentlich nicht mehr zugängliche Glassammlungen.

Doch das Essen war gut, die Aussicht auf Ort und Umgebung reizvoll und das Gespräch über neue Pläne und Projekte hier in diesem abseitigen Städtchen so anregend, dass ich vergessen habe, Jan Florian nach Alois Weinert zu fragen. Er war 1875 in Weseritz geboren, hatte sich mit Krimis im Edgar-Wallace-Stil, die er in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Louis Weinert-Wilton verfasst hatte, weiten Ruhm als Schriftsteller erworben und war 1945 in Prag gestorben. In einem koncentrační tábor, einem der tschechischen Konzentrationslager. Die anscheinend die „Nachfolge“ der deutschen KZs angetreten hatten. 


* Sven Müller, Die Holdschicks aus Weseritz. Vom Zerfall der Donaumonarchie bis zum Verlust der Heimat. Norderstedt: Books on Demand 2009 

P.S.: Ich hatte gerade die Fotos in diesen Post eingegeben, als ich per Mail eine handschriftliche Postkarte bekam. Eben von Sven Müller. Ich hätte sie gern eingestellt, was mir aber technisch nicht gelang. So habe ich den Text kopiert: „Im Böhmerwald habe ich oft gedacht, wie schade es ist, dass Sie nicht dabei sein und einen Blog schreiben können. Glöckelberg ist eines jener im Grenzgebiet verschwundenen Dörfer. Ich traf dort eine Böhmerwalddeutsche, die bleiben musste. Sie betreut die renovierte Nepomuk-Kirche und das Mesnerhaus, in dem ein Museum über Johannes Urzidil und einen Pfarrer untergebracht ist, der freiwillig Typhuskranke im KZ betreute und selbst dabei umkam. Die Frau hat mir unglaublich interessante Einblicke in ihr Leben als Deutsche in der ČSSR gewährt ... Ich drücke die Daumen für die Veranstaltung im Haag.“

Zweites P.S.: Den Haag, eben. Die hier erwähnte Veranstaltung ist ein Pilsen-Abend in der Deutschen Internationalen Schule in Den Haag (eine Stadt, die ich nicht kannte). Ich bin quer durch Mitteleuropa hergefahren. Nachdem ich die Müdigkeit der 1000-Kilometer-Autofahrt von Pilsen her etwas überwunden hatte, schaute ich mich im eleganten Konsulats- und Botschaftsviertel um, in dem ich logiere. Zum Glück hatte ich den Fotoapparat dabei. Ich konnte kaum noch aufhören, und wenn die Sonne nicht untergegangen wäre, hätte ich mich von diesen faszinierenden Bauten zu noch vielen anderen Fotos animieren lassen.





Sonntag, 13. September 2015

Neue Spielregeln


Von Asylanten und Obdachlosen

Eine neue Lizzie Maggie? Wer das war? Elizabeth (wie sie in Wirklichkeit hieß) Maggie, eine Schauspielerin und Schriftstellerin aus dem US-Bundesstaat Maryland, hat im Jahr 1903 das Monopoly-Spiel erfunden – oder richtiger gesagt: eine Vorform dieses über die ganze Welt verbreiteten Spiels, das dann 1935 von einem arbeitslosen Heizungstechniker patentiert wurde.

Was das wieder mit Pilsen zu tun hat? Als Artist in Residence lebt hier zur Zeit Janna, eine 25 Jahre junge deutsche Grafikerin. Janna Ulrich hat als Master-Arbeit in Amsterdam das Gesellschaftsspiel „Niemandsland” erfunden. Figuren dieses Spiels sind Asylanten, Sicherheitskräfte und „normale” Bürger, Ausgangspunkt ist – da sie ja illegale Einwanderer sind – das Gefängnis, Ziel die Abreise mit dem Flugzeug. Was nicht alle Asylanten schaffen. 

Die deutsche Grafikerin Janna Ullrich, zur Zeit als Artist in Residence in Pilsen

Bei ihrem Artist-in-Residence-Aufenthalt in der westböhmischen Hauptstadt hat Janna begonnen, neue Spielregeln für das Monopoly-Spiel zu erarbeiten. Regeln, die es den Spielern nicht erlauben, Besitz, also „Monopole“, anzusammeln – wie es beim heutigen Monopoly-Spiel der Fall ist. Im Gegenteil. Sie kommen von Besitz auf Nichtbesitz, aber der Zugang zu den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens – Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Gesundheitsfürsorge und so weiter – wird ihnen gesichert.

Janna erzählt voll Enthusiasmus, wie sie – von einem holländischen Flüchtlingskollektiv inspiriert – dazu kam, sich mit diesen Themen auseinandersetzen: gegen die Asylindustrie, in der Unmengen Geld gemacht werden. Und inzwischen bastelt sie, in gewollter Isolierung in zwei Räumen in der Pilsener Kreativwerkstatt DEPO2015, an einem neuen Monopoly. Zu einer gerechteren Welt, in der nicht oft unsauber angehäufter Reichtum und Geldmacherei zählen, sondern einzig die Menschenrechte. Für alle.

Ich hatte noch Janna mit ihren revolutionären Monopoly-Spielregeln und ihrem sozialen Engagement im Kopf, als – nach der Präsentation einer von der Organisation Pilsen2015 herausgegebenen Publikation meiner Texte und Fotos – Karina Kubišová auf mich zukam, die Kuratorin des Projekts „Zen – Die Stadt als Ausstellungsraum“. In einem Post hatte ich Ende Mai davon berichtet. „Budelíp“, „Es wird besser“, war der Titel einer von Professoren und Studenten der Ladislav-Sutnar-Fakultät für Architektur und Design organisierten Ausstellung, die den Obdachlosen gewidmet war. 


Die als Provokation gedachten Container-Asylheime

Ich hatte die zu Mini-Unterkünften umgemodelten Müllcontainer für eine reine Herausforderung gehalten, Anstoß zum Nachdenken über das Leben am Rande. Aber Karina erzählte es mir anders: Gleich nach der Eröffnung waren tatsächlich Obdachlose in die Mini-Häuschen eingezogen. Sie richteten sich in den winzigen Räumen ein, hatten aber wenigstens ein Dach über dem Kopf, brachten auch Namensschilder an den einzelnen Mini-Häusern an. Aber – solche Geschichten haben immer ein Aber – wenige Wochen später waren die Container von der Stadtverwaltung abtransportiert worden: Die Umwohner hätten protestiert, es bestünde Feuergefahr und so weiter. Und die Obdachlosen zogen ab, ohne Widerstand. „Ihr nehmt uns unser Zuhause“, war ihr einziger Einspruch.

Was als provokatorische Kunstausstellung gedacht war, die mehrere Monate hätte bleiben sollen, ist vor der Zeit abgebaut worden.

Karina Kubišová war sehr traurig, als sie mir diese Geschichte erzählte.

Donnerstag, 10. September 2015

Naturdenkmal am Stadtrand von Pilsen


Die Teufelskanzel bei Radčice

Abstrakte Gemälde? Moderne Reliefs? Wir vergessen wohl zu oft, dass die Natur sehr viel reicher und fantasiereicher ist als das menschliche Vorstellungsvermögen.

Pilsen kann sich nicht nur mit Bauwerken aus sieben Jahrhunderten brüsten, mit einer langen Geschichte als Handelsstadt an der „goldenen Straße“ von Nürnberg nach Prag, mit dem riesigen Hauptplatz, einer kleinen Kathedrale und modernen, zukunftsorientierten Kulturwerkstätten, sondern auch mit interessanten naturkundlichen Erscheinungen. Die leider von den meisten Touristen übersehen und auch von den Einheimischen nicht gebührend beachtet werden.

Zu den eigentümlichsten geologischen Formationen in Pilsen – sie liegen an der Straße in den Vorort Radčice und somit noch auf dem Stadtgebiet – gehört die Čertova kazatelna, die „Teufelskanzel“. Sonderbare Formen in der Natur haben die Fantasie der Menschen schon immer beflügelt, weshalb man sich über den Namen nicht zu wundern braucht.

In jahrtausendelanger Schwerstarbeit hat die neben der Straße verlaufende Mže, einer der fünf Pilsen umschlingenden und durchschlängelnden Flüsse, während der Karbonzeit vor rund 300 Millionen Jahren entstandene Sandsteinschichten ausgefressen und ausgehöhlt und geschliffen. Die bis zu 22 Meter hohe, wie von einem Riesenbildhauer modellierte Felswand präsentiert sich mit unglaublichen Formen und je nach Tageslicht changierenden Farben, die sich heutige Architekten, Designer und Maler zum Vorbild für ihre Kreationen nehmen könnten.

Hier nachfolgend eine Fotostrecke dieses přírodní památka, dieses überraschenden Naturdenkmals am Rande der 170.000-Einwohner-Stadt:






















Montag, 7. September 2015

Zurück!


Von Suppen und anderen Genüssen

So bin ich, nach einem gut einmonatigen italienischen Heimaturlaub, wieder im Lande. In meiner alten, neuen Heimat Böhmen. Wo sich nichts geändert hat. Pilsen liegt wie eh und je an fünf Flüssen, bei meiner Anfahrt wurde ich, wie immer, vom hohen, spitzen Glockenturm der Bartholomäuskathedrale begrüßt, und die Einheimischen sind, wie eh und je, freundlich-reserviert.

Pilsen mit (rechts) dem Glockenturm der Bartholomäuskirche

Ich bin, trotz aller guten Vorsätze, immer noch keine rechte Biertrinkerin geworden, bin aber eine Suppenschlemmerin. So konnte ich mir das „Festival polévky“ nicht entgehen lassen, das „Suppenfestival“, mit dem das dreimonatige Straßenfestival „Živá ulice“ (Lebendige Straße) zu Ende ging. Da wurden Gemüse und Kartoffeln zerkleinert, Schinken und Kutteln in Stücke geschnitten, es wurde gehackt und geschnitzelt, roch nach Zwiebeln, Knoblauch und gebratenen Würsten (mein Hund Zampa wusste nicht mehr, wo er hinriechen sollte), und in den  – so wird erzählt – eigens aus Ungarn herangeschafften Vierzig-Liter-Kesseln brodelten bald Suppen in allen Farben und Geschmacksvarianten. Zwölf Restaurants, Bistros und Vereine präsentierten tschechische und slowakische Suppen, aber auch italienischen Minestrone, französische Zwiebelsuppe, marokkanische Harira und Spezialitäten aus Indien und Südamerika. 

Alles bereit zum Suppenfestival „Festival polévky“

Auch Jiří Sulženko, Programmdirektor von Pilsen2015, ist als Hobbykoch mit von der Partie.
 
Suppen in allen Farben ...

Die internationale Suppengourmetwelt hatte sich am Pilsener Hauptplatz ein Stelldichein gegeben, und bei dieser Gelegenheit lernte ich gleich zwei Leidenschaften der Pilsener (der Tschechen?) kennen: das Suppenessen und das Schlangestehen. Die erste Passion teile ich mit ihnen, die zweite nicht, und ich habe, ehrlich gesagt, große Geduld aufbringen müssen, um fast eine halbe Stunde in der Schlange auf meine Suppe zu warten. Was sich aber lohnte. Die mit großzügigen Wurststücken und Rahm angereicherte Sauerkrautsuppe „Andělská zelňačka“ war wirklich köstlich und bekam auch meine Stimme: Schließlich wurde sie von der Organisation Pilsen2015 präsentiert, der ich als Stadtschreiberin verpflichtet bin.

Schlangestehen für eine Suppe

Der Pilsener Hauptplatz Náměstí Republiky sprach heute Tschechisch, die Stadt aber Deutsch in den unterschiedlichsten Dialektvarianten. Deutsch waren die überall geparkten Touristenbusse, auf Deutsch wurde in Cafés und Restaurants bestellt, auf Deutsch die Stadtführungen gehalten. Es stimmt also, was ich schon in Zeitungen und Online-Nachrichten gelesen habe: dass die westböhmische Hauptstadt viel, ja sehr viel mehr Touristen aus deutschsprachigen Ländern anzieht als in den Vorjahren. Die eifrig und offensichtlich geschickt gerührte Werbetrommel der Europäischen Kulturhauptstadt hat wohl den gewünschten Erfolg erbracht. So bleibt nur zu hoffen, dass es der westböhmischen Metropole gelingt, auch das Image der Nur-Bier-und-Industrie-Stadt abzuschütteln. Was aber nicht leicht sein dürfte, solange Einheimische und in der Stadt Ansässige „Bier“ und „Ṧkoda“ als Symbolbegriffe für Pilsen anführen.

Diese allerdings nicht überraschende Entdeckung habe nicht ich gemacht, sondern sie ist (auch) das Fazit der Ausstellung „Tvář Plzně“, „Das Antlitz von Pilsen“. Acht einheimische Künstler zeigen im DEPO2015 sehr realistische Porträts von normalen Pilsenern und Wahl-Pilsenern, um – wie es im Ausstellungskatalog heißt – „Pilsen in seiner alltäglichen Vielfalt“ zu präsentieren. 

Jan Uldrych, Pavel Süssenbek

Jiří Bouma, Miriam Jandáková

Václav Sika, Václav Lindaur. Der Abgebildete entstammt der weit verzweigten, aus dem Pilsener Raum kommenden Familie Lindauer, der auch der Maler Gottfried Lindauer (1839–1926) angehörte. Seine im späten 19. Jahrhundert entstandenen, sehr detailgetreuen Porträts von neuseeländischen Maori-Häuptlingen sind noch bis zum 20. September in der Westböhmischen Galerie in Pilsen zu sehen.

Die dargestellten Personen stimmen bei aller Unterschiedlichkeit in Herkunft und Lebensweise aber eben doch darin überein, dass sie in der Mehrheit „Bier“ als Synonym für Pilsen anführen. Und „Škoda“. Was auf Deutsch „schade“ bedeutet und ich auch für sehr schade halte. Denn Pilsen ist doch – was ich schon mehrmals unterstrichen habe – mehr und reicher als sein Ruf.

P.S.: Ich hätte niemals gedacht, dass „meine“ Kulturhauptstadt mir und meinem Hund Zampa so schnell ein Denkmal setzen würde. Mit einer Bronzeskulptur der tschechisch-kanadischen Künstlerin Lea Vivot, deren realistische Arbeiten auf Pilsener Plätzen und Promenaden zum Interagieren und Fotografieren einladen.

Lea Vivot, Butterfly (links)
Detail einer anderen Lea-Vivot-Skulptur