Mittwoch, 25. November 2015

Die Klatovská-Straße im Wandel der Zeiten

Nachdem die Stadtschreiberzeit von Wolftraud de Concini leider vorüber ist, bloggen auf ihrer Seite bis Ende des Jahres Schülerinnen des Geschichtslehrers Antonín Kolář über verschiedene Pilsener Themen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa.

Wenn ich mir die Zeitachse und den Wechsel der wichtigsten Pilsener Straßennamen anschaue, muss ich an Winston Smith denken. In der fiktiven Gesellschaft des Romans 1984 von George Orwell war es seine Aufgabe, die Geschichte Buch um Buch, Seite um Seite, Titel um Titel umzuschreiben. Ist der Wechsel der Straßennamen nicht auch ein solches Bemühen, die Geschichte zu verändern oder zu retuschieren? Ich denke, die Menschen sollten sich mehr für die Dinge um sie herum interessieren und in den scheinbar nichtssagenden Straßennamen nach einer Bedeutung suchen, denn wechselnde Benennungen können so manches über uns und unsere Geschichte verraten.

Von Pavla Papazianová, Masaryk-Gymnasium Pilsen

1879 Ferdinandstraße/Ferdinandova třída

Ab diesem Jahr wurde die Straße Ferdi­nand­straße genannt und ihr größter Abschnitt, der stadt­aus­wärts in Richtung Litice führt, hieß Klattauer Straße/ulice Klatovská. Diese Periode stand im Zeichen eines großen städtebaulichen Aufschwungs und die Einwohnerdichte der Stadt stieg relativ schnell an. Die Straße wurde allmählich mit Häusern bebaut. Es entstanden auch Arbeitersiedlungen, Schienenverbindungen und Fabriken. Der Straßenname war eine Huldigung des österreichischen Kaisers und letzten gekrönten böhmischen Königs Ferdinand I., genannt der Gütige. Diesen Beinamen erhielt er für sein gütiges und freundschaftliches Auftreten, das vor allem die Tschechen so empfanden, denn nach seiner unfreiwilligen Abdankung im Jahr 1848 verbrachte der Kaiser den Rest seines Lebens bis zum Jahr 1875 in Prag.

1921 Straße der Tschechoslowakischen Legionen/třída Československých legií

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehörten die Mitglieder der Tschecho­slowa­ki­schen Legio­nen, die 1920 aus ihren Einsatz­gebie­ten in Russland, Frankreich und Italien zurückgekehrt waren, zu den in der Gesellschaft am meisten verehrten Nationalhelden. Sie hatten nicht nur gegen einen nun besiegten Feind gekämpft, der das Land viele Jahre in den Krieg hineingezogen hatte, sondern galten vor allem als Symbol des Widerstands gegen die Habsburger Monarchie und als neues Symbol der gewonnenen staatlichen Selbständigkeit. Wichtig war das Jahr der Umbenennung dieser Pilsener Hauptstraße auch wegen der Exhumierung der hingerichteten Legionäre in Italien, zu deren Ehren in Pilsen ein feierlicher Umzug stattfand.

1940 Klattauer Straße/ulice Klatovská

Die Straße bekam 1940 eine neutrale Be­zeich­nung. Die Namens­ände­rung hing vermutlich mit der Be­set­zung der Tschecho­slowa­kei und der Er­rich­tung des Protek­torats Böhmen und Mähren im Jahr 1939 zusammen. Nach dem Beginn des Zwei­ten Weltkrieges, als die Tschechoslowakei durch das aggressive nazistische Deutschland besetzt war, kam ihre ursprüngliche Bezeichnung voll nationalen Heldentums nicht mehr in Frage. Den Besatzern hätte es bestimmt nicht gefallen, wenn eine der Hauptstraßen Pilsens nach Soldaten benannt gewesen wäre, die im Ersten Weltkrieg gegen sie gekämpft hatten. Die Bezeichnung wurde vermutlich aus rein geografischen Gründen gewählt, da die Straße aus Pilsen in Richtung Klattau/Klatovy führt. 

1943 Reinhard-Heydrich-Straße/třída Reinharda Heydricha

Im Jahr 1943 wurde die Straße nach Reinhard Heydrich benannt. Diese Bezeichnung sollte so ein Memento für die Tschechen sein und eine Erinnerung an den ermordeten stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Er starb 1942 nach einem auf ihn verübten Attentat im Prager Stadtteil Libeň. Seine Ermordung war sicher die bedeutendste Aktion des tschechoslowakischen Widerstandes gegen die nazistische Okkupation. Da Heydrich als eine der einflussreichsten Personen des Deutschen Reiches galt, wurde sein Tod entsprechend betrauert und seine Persönlichkeit entsprechend verherrlicht, etwa in Form der Umbenennung einer bedeutenden Pilsener Straße. Die Bezeichnung sollte den tschechischen Bewohnern eine Warnung davor sein, sich den deutschen Machthabern erneut zu widersetzen. Viele Menschen, die während der sogenannten Heydrich-Ära hingerichtet wurden, stammten aus Pilsen und auch die späteren Attentäter hatten hier nach ihrem Absprung auf das Gebiet des Protektorats ihren ersten Unterschlupf gefunden.

1945 Benešov-Straße/Benešova třída 

Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste der Straßenname erneut geändert werden. Die Straße trug fortan den Namen des Präsidenten Edvard Beneš, während der Okkupationszeit Vertreter des tschechoslowakischen Widerstands und der Londoner Exilregierung. Die Tschechoslowakei kehrte zu den Idealen der Ersten Republik zurück und die Straße wurde zum ersten Mal in ihrer Geschichte nach einer lebenden Persönlichkeit benannt. Die Straße trug den Namen von Präsident Beneš allerdings nur ein Jahr lang.

1946 Wieder Klatovská

Die Benešova bekam wieder sehr schnell den neutralen Namen Klatovská. Die Erklärung dafür lag darin, dass die ersten Nachkriegswahlen stattfanden, in denen die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) die meisten Mandate erhielt. Die KSČ gewann die Wahlen und zugleich wurde gemäß der Regierungsanordnung vom 27. 5. 1946 im gleichen Verhältnis die Zusammensetzung der Nationalausschüsse auf allen Stufen der Verwaltung eingerichtet. Dies bedeutete, dass auch in Pilsen die meisten Sitze der Kommunistischen Partei zufielen. Es ist bekannt, dass die KSČ Präsident Beneš nicht sehr schätzte. Deshalb kehrte man zur neutralen Straßenbenennung Klatovská zurück. Der Name von Edvard Beneš wurde getilgt und er selbst kurz nach dem kommunistischen Putsch zum Rücktritt gezwungen.

1951 Straße des 1. Mai/třída 1. máje

Nach der Macht­ergreifung durch die Kommu­nisten im Februar 1948 war klar, dass eine erneute Straßen­um­benen­nung nicht lange auf sich warten lassen würde. Ideo­logie und Aufbau­begei­sterung spie­gel­ten sich in der wei­te­ren Namens­änderung der Straße wider. Benannt wurde sie nach einem der wichtigsten Feiertage der damaligen Zeit, mit dem die Arbeit verherrlicht wurde. Der Erste Mai – Zeit der Liebe, aber damals vor allem der »Tag der Arbeit«, an dem Schüler, Studenten und Fabrikarbeiter verpflichtet waren, an den propagandistischen sogenannten Maiumzügen teilzunehmen. Da die Klatovská einen bedeutenden Teil der Stadt durchlief, wurde gerade sie für diese feierliche Veranstaltung bestimmt. Daran erinnert bis heute das Restaurant Májovka, auch wenn sich mittlerweile nur noch Zeitzeugen daran erinnern, dass sich der Name des Restaurants von der ehemaligen Benennung der Straße ableitet.

1991 Wieder Klatovská

Die Umbenennung der Straße im Jahr 1991 entsprach dem politischen Wandel nach der Samtenen Revolution im Jahr 1989. Die Menschen lebten nicht mehr mit dem Gefühl der Angst, das sie zu den feurigen Festveranstaltungen der kommunistischen Feiertage nötigte, daher geriet die Bedeutung des 1. Mai fast abrupt in Vergessenheit. Man wollte keinen Straßennamen mehr in Verbindung mit dem kommunistischen Regime haben. Die Tschechoslowakei wurde zu einem demokratischen Land mit Václav Havel als Präsident an der Spitze. Ihren Namen trägt die Straße bis heute und es bleibt die Frage, ob es zu einer weiteren Namensänderung kommen wird. Ich nehme an, dieser kurze Abstecher in die Geschichte einer Pilsener Straße machte sichtbar, dass Straßennamen die gesellschaftliche Atmosphäre oder die Richtung einer politischen Macht reflektieren können. Ich denke, dass die Straße immer dann spezielle Namen hatte, wenn die Gesellschaft von den gleichen Emotionen bewegt war, wie im Fall der Ferdinandstraße und der Straße der Tschechoslowakischen Legionen, oder auf der anderen Seite einer totalitären Macht untergeordnet war wie im Fall der Heydrich-Straße und der Straße des 1. Mai. Und welche anderen Namen wird die heutige Klatovská weiter tragen? Ich hoffe, ihr Name bleibt ihr für eine längere Zeit erhalten.

Übersetzung: Kristina Veitová und Tanja Krombach

Freitag, 20. November 2015

Die Katastrophe von Bolevec inspirierte Karel Čapek zu seinem berühmten Roman »Krakatit«


Nachdem die Stadtschreiberzeit von Wolftraud de Concini leider vorüber ist, bloggen auf ihrer Seite bis Ende des Jahres Schülerinnen des Geschichtslehrers Antonín Kolář über verschiedene Pilsener Themen. Das Projekt wurde initiiert vom Tschechischen Zentrum Berlin und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa.

Im Jahr 1917 ereignete sich in der Munitionsfabrik in Pilsen eine tragische Explosion, die als die Katastrophe von Bolevec in die Geschichte einging. Seit 1901 hatte sich hier ein Schießplatz für Kanonen befunden, die man in den Škoda-Werken im Zentrum Pilsens zusammenbaute. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde damit begonnen hier Munition herzustellen. Die größte Munitionsfabrik in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie lag innerhalb von Sekunden in Trümmern. Alle Gebäude bis auf eines waren vollständig zerstört. Eine ganze Weile konnte man aber nicht mit den Aufräumarbeiten sowie der Bergung der Verletzten und Toten beginnen. Es flogen immer noch Teile der explodierenden Munition durch die Luft und jegliche Unachtsamkeit hätte zu weiteren Detonationen führen können. 

Von Helena Matějková, Masaryk-Gymnasium Pilsen

Die verheerenden Explosionsfolgen
Foto: © Westböhmisches Museum in Pilsen

Anfang des 20. Jahrhunderts verlegten die Škoda-Werke ihren Feuerübungsplatz von Doudlevec nach Bolevec und schon 1901 begann man hier mit den ersten Schießübungen. Das Objekt war das größte Munitions- und Versuchswerk im damaligen Österreich-Ungarn. Das 60 Hektar große Grundstück mit insgesamt 57 Gebäuden, darunter auch die Werkstätten und Lagerräume, war mit einem Stacheldraht eingezäunt und Maschinengewehrtürmen geschützt. In den Škoda-Werken arbeiteten etwa 3.000 Menschen, hauptsächlich Frauen, Mädchen und Jungen aus Pilsen und Umgebung.

Während des Ersten Weltkriegs bemühte sich die Fabrikverwaltung, an der Kriegsmaschinerie möglichst viel zu verdienen, und so wurde in sehr hohem Tempo gearbeitet, um die steigenden Anforderungen der Kriegsfront schnell erfüllen zu können. Neue Objekte wurden ohne amtliche Genehmigung gebaut, man teilte den zuständigen Behörden höchstens knapp die Existenz eines bereits errichteten Gebäudes mit. Aufgrund maximaler Sparmaßnahmen wurden grundlegende Sicherheits- und Hygienevorschriften nicht eingehalten. Die Werkstätten und Lagerräume waren überfüllt mit fertiger Munition und den für ihre Herstellung notwendigen Materialien. Auf dem Werksgleis häuften sich überfüllte Waggons, oft mit gefährlichem Material.

Das Massengrab der Katastrophenopfer auf dem Friedhof von Bolevec. Jedes Jahr wird in der sich daneben befindenden St. Adalbert-Kapelle mit einer Messe der Explosion in der Munitionsfabrik gedacht.
Foto: © František Kabát, sdruzeniboleveckychrodaku.cz
Am 25. Mai 1917 kam es um 13.32 Uhr im Gebäude Nummer 10 zum ersten Ausbruch. Von dort breiteten sich die Explosionen nach und nach auf immer weiteren Teilen des Areals aus. Zur verheerendsten Detonation kam es dann um 15.08 Uhr, als ein riesiges Sprengstofflager in die Luft flog. Über der Munitionsfabrik erschien eine rote, atompilzartige Säule aus stickigem Rauch. Die Druckwelle war so stark, dass es bis ins Stadtzentrum zu Schäden kam, wo die Erschütterungen Fensterscheiben zerstörten oder Fenster und Türen aus ihren Rahmen rissen und sogar an manchen Orten Risse an den Gebäuden erschienen. Die Munitionsfabrik wurde innerhalb eines Augenblicks zu einer großen Ruine, auch der angrenzende Wald fing an zu brennen.

Die Karte der Munitionsfabrik in Bolevec
Foto: © Maják Pilsen
Etwa 700 Verletzte benötigten ärztliche Hilfe. In die Särge wurden Leichen oder sterbliche Überreste gelegt, es gab angeblich über 200 Tote. Manchmal befanden sich in einem Sarg Überreste mehrerer Menschen. Ihre Angehörigen versuchten sie an den unbeschädigten Ringen und Armbändern zu identifizieren. Manche Leichen waren aber so entstellt, dass man nicht einmal ihr Geschlecht bestimmen konnte.
Zeitgenössische Korrespondenz über die Explosion in der Munitionsfabrik
Foto: © Maják Pilsen
Bis zum Abend folgten noch 18 weitere größere Explosionen und noch bis zum Morgengrauen flogen die Munitionsschüsse bis ins kilometerweit entfernte Košutka und Třemošná. Die erschrockenen Bewohner der Stadt und der anliegenden Gemeinden versteckten sich in Wäldern, Feldern und in Steinbrüchen. Jegliches Alltagsleben stand still, die Geschäfte und die Schulen blieben geschlossen, es wurde noch nicht einmal in den Ämtern und in den Fabriken gearbeitet.
Die Explosion der Munitionsfabrik von Pilsen aus gesehen
Foto: © Maják Pilsen
Auf dem Friedhof von Bolevec wurde ein drei Meter tiefes Massengrab ausgehoben, in dem im Laufe des Begräbnisses am 29. Mai insgesamt 53 Särge beigesetzt wurden. In den darauffolgenden Tagen und Wochen hier begraben wurden weitere Opfer, die man bei den Aufräumarbeiten fand oder die in den Krankenhäusern ihren Verletzungen erlegen waren. Das Massengrab mit insgesamt 143 Särgen wurde erst im August endgültig zugeschüttet. Drei der Opfer wurden auf Wunsch ihrer Verwandten in Třemošná und eines in Druztová beerdigt. Zum Gedenken an die Opfer ließen hier die Škoda-Werke in den Jahren 1917 bis 1920 die Kapelle des Heiligen Adalbert erbauen. Die österreichischen Ämter versuchten, die Nachrichten über die Katastrophe zu beschönigen, man sprach in den offiziellen Medien von unerheblichen Schäden und etwa fünfzehn Opfern.

Die Munitionsfabrik in Bolevec nach der Explosion
Foto: © Maják Pilsen
Zur Explosion kam es im Gebäude Nr. 10, wo Wurfminen hergestellt wurden. Mängel an diesen hatte der Meister Vojtěch Žižka dem Fabrikdirektor Rudolf Thiel gemeldet. Thiel winkte aber angeblich ab, empfahl, die defekten Stücke zur Seite zu legen und begab sich in die Mittagspause. Als Ursache für die erste Explosion gilt also ein Fehler an einer der Minen. Eine eventuelle Explosion einer Mine hätte allerdings nicht solche Schäden angerichtet, wenn die grundlegenden Vorschriften eingehalten worden wären. Die Explosion hätte wahrscheinlich nur das Objekt Nummer 10 zerstört und so wären nur wenige Menschen getötet oder verletzt worden. Allerdings war die Munitionsfabrik überfüllt und darüber hinaus wurde sie mit mehreren Waggons Trinitrotoluol beliefert. Diese mussten sofort ausgeladen werden, um Feuchtigkeitsschäden vorzubeugen, und aus Platzmangel lagerte man das meiste Material unter den Arbeitstischen in Gebäude Nummer 10. Von den 100 hier befindlichen Personen überlebten nur vier, unter den Toten befand sich auch Žižka. Thiel beging später im Gefängnis Selbstmord.

Karel Čapeks Roman Krakatit
Die Tragödie von Bolevec inspirierte Karel Čapek zu seinem Roman Krakatit. Čapek war in dieser Zeit Erzieher in der Familie des Fürsten Lažanský in Chýše/Chiesch bei Žlutice/Luditz. Das ganze Ereignis beobachtete er aus dem Fenster des Schlosses, etwa 40 Kilometer Luftlinie von Pilsen entfernt. Später beschrieb er das Geschehen indirekt in seinem Buch als einen Ausbruch des Vulkans Krakatoa. Die Hauptfigur des Romans ist der Chemiker Ing. Prokop, dem es gelingt, einen einmalig starken Sprengstoff herzustellen. Er nennt ihn Krakatit, nach dem indonesischen Vulkan Krakatoa. Am 21. August 1883 hatte sich hier die zweitstärkste Explosion der Neuzeit abgespielt. Eine besondere Eigenschaft des Krakatit besteht darin, dass es scheinbar grundlos explodieren kann.  

Übersetzung aus dem Tschechischen: Kristina Veitová und Tanja Krombach